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selbstverstandlich ich dieses sehr lange Zu-zweit-sein gelebt habe. Mit Dankbarkeit schaue ich zurück auf diese lange Zeit im Glück. „Einer hat immer Unrecht, zweie sind aber kaum zu widerlegen. Einer kann sich kaum beweisen, mit zweien jedoch beginnt die Wahrheit“, meinte Friedrich Nietzsche. Jürgen Walter und ich nahmen diesen Aphorismus in den neunziger Jahren als Motto bei der Präsentation unseres Projektes „Ich und Ich“, bei dem Selbstportraits von ihm als Skulpturen und Gedichte von mir in Ich-Form zusammenfanden. Marie Luise Kaschnitz Die Worte Wufsten wir in sorgenlosen Zeiten, Unbestimmt von Schmerz und Lust erregt, Um den bittern Kern der Wirklichkeiten, Welchen jedes Wort zuinnerst hegt? Wie ist alles Fühlen und Begehren Nun mit eins den Sinnen so verwandt. Trennung meint den Raum und Not Entbehren, Hoffnung weiß um ihren Gegenstand. Furcht ist nicht ein unbestimmtes Wähnen, Schmerz bemifst ein Übermaß an Tränen, Und Gefahr ist tödliche Gefahr. Auch die Liebe, zitternd Mund an Munde, Sinkt zum Grunde, bis zum Grunde Macht ihr Wesen offenbar. Gerne betrachte ich die Menschen wie Häuser, in denen Vieles und Viele wohnen. Manchmal müssen wir aus uns hinaustreten wie auf einen Balkon und schauen, ob es noch Vögel gibt, die fliegen und in den Baumen verschwinden, wenn es auch diese noch gibt. Leider haben die Tauben vielerorts bereits einen schlechten ungesunden Ruf. Doch es gibt noch Tauben liebende Menschen und die weiße Taube als Friedensflieger gibt es auch noch. Einmal stand ich Auge zu Auge mit einer Taube und ich hatte Furcht vor ihrem Blick. Vielleicht habe ich sie mit zu viel Argwohn angeschen und sie, die Vorsichtige oder Ängstliche, spiegelte nur meinen Blick. Schau liebe Marie Luise, wie die Tauben der Zeit sich fast übernicken, beim Sammeln von Hoffnungskrümeln, die man ihnen hinwarfund die wir beide ihnen nicht wegnahmen. Wie hast Du wohl die Tauben betrachtet? Vielleicht wäre es ein Leichteres eine Taube zu sein. Noch schöner wäre es zwei Tauben zu sein. Anstatt auf einem Balkon der Zeit zu stehen, die Tauben zu verscheuchen und sich auf eine Tasse Kaffee mit Schwarzwälder Kirschtorte zu freuen, den man selbst eigentlich gar nicht mag. Und den man nun deshalb als so wichtig empfindet, weil der herzgeliebte Mensch, den zu lieben man sich erfreuen durfte, Schwarzwälder Kirsch zum Lieblingskuchen erkor. So und in tausend anderen Verkoppelungen durch das ewige Zwei-seinWollen kann man leben, ohne auch nur halb so glücklich zu sein. 46 ZWISCHENWELT Marie Luise Kaschnitz Einer von zweien In meinem Gedächtnis wohnst Du Mein Leib ist dein Haus Mir aus den Augen siehst du den Frühling Noch immer die rote Kastanie. Auf dem Fluf jedes Tages Kommst du geschwommen Steigst mit jeder Sonne Mir über den Hügel. Hände hab ich Zehn Finger und flinke Füfe Näher kommst du Ich fasse dich nicht. Ihr sollt in mir sehen Einen von zweien Und hinter meinen Worten Unruhig horchen Auf die andere Stimme. Ihr sollt sehen wie meine Wunde Zu glühen beginnt Wenn die Welle kommt Der Muschelgeruch der Häfen Wenn im Buchenwald unsichtbar Maisingen die Vögel. Wie soll der Ablauf des Lebens nun weiterhin gelingen? Mit Koordinationsschwierigkeiten und Balance-Verlust. Wie einen neuen Schritt wagen? Und wie soll er ausschen? Die Zeit, in der die eigenen Augen und Fühler in sich selbst hineingesendet ruhen oder aufbegehren, ist vorbei. Die Gier nach dem „ICH“. Nur mit einem gierigen „WIR“ wird die Zukunft zu retten sein. Mein leises Erwachen aus einem Seelenkoma. Unser schönes Deutschland, unser wunderbares Europa, unsere Welt, der ganze Planet Erde, liebe Marie Luise, ist wieder in größter Not, in größter Gefahr. Die Rundum-Unmenschlichkeit, die Du in der Zeit Deines Lebens schon einmal geschen, erlebt und gefürchtet hast, geht jetzt wieder spürbar umher und klopft nicht an die Türen, nein sie tritt ein, wieder mit Gewalt und der bösartigen und gefährlichen Kleinheit, der trotz aller klugen Errungenschaften in Dummheit gefangenen Menschen. Die Welt ist wieder aus den Fugen und ganz und gar außer sich geraten. Alle Menschen aller Erdenländer bekommen sie wieder zu spüren, diese böse Zeit. Das Weh und Klagen, das Hassen und Töten hat sich wie ein dunkles Tuch über alles, was nach so vielen bösen alten Zeiten, endlich wieder hell und froh erschien, schwer auf der neuen Zeit breit gemacht. Marie Luise Kaschnitz Der Schritt um Mitternacht Hörst du den Schritt um Mitternacht, Der Toten, die sich aufgemacht?