Das Land, das ewig Frieden hat
Ist nicht mehr ihre Ruhestatt.
Die Liliengärten liegen brach,
Und als ein Kreuz und Ungemach
Ein Pfad, der in den Abgrund weist,
Ein Sog der in die Tiefe reißt,
Ein Feueratem überm Moor,
Ein Schrei nach Blut, ein Schlag am Tor,
Ein Griff; der nach der Kehle drängt,
Ein Jammer, der das Herz zersprengt:
So, sind sie uns gesendet.
Weh, wie das endet.
Vor dreißig Jahren habe ich ein Gedicht geschrieben, das 1987
in meinem ersten Gedichtband FLUGFÄNGER veröffentlicht
Wenn das Gierige weiterlebt
nach Zerfall des Körpers
und nur der Gedanke übrig bleibt
es könne auch ohne Vernichtung
ein Ende geben
will nichts bösartig gewesen sein
was einmal mit Angst geatmet hat
Tief Luft holen und das Morgen einatmen. Die Lungen öffnen, die
Augen und die Ohren. Vielleicht auch den neuen Gedanken und
hoffentlich auch die Arme und das Herz. Wenn man früher über
die kommende Zeit sprach, war es immer ein Gedanke, der gerne
endete mit einem Satz: „Wer weiß was da noch kommen mag.“
Heute sprechen wir von der kommenden Zeit wie von einem
Morgen, das schon vergeben oder anderen versprochen wurde.
Die Sonne geht auf und kommt nieder, egal wer wem wann, wo
und was, vorhergesagt, oder verschwiegen hat.
Wie gut kann es sein, aufzustehen und zu gehen, in ein zuver¬
sichtliches Morgen. Wie wunderbar, sich zu bewegen im Kopf
und mit den Beinen und damit auch unerwartete Sprünge zu
machen. Selbst wenn man sich hin und wieder fragt, was habe
ich hier noch zu suchen, irgendein vielleicht noch langes Leben
Hier ein Abschnitt aus einem längeren Gedicht von mir, mit
dem Titel:
... Lachen wie ein Greis
dem ist ein Sprung gelungen
von einem Bein aufs andere
auch lachen wie ein Kind
von einer Brust zur anderen gehoben
auch lachen wie ein Hund
dem eine Wurst
an den Schwanz gebunden
ebenso dreht sich in Kreise das
und weiß nicht was es ist und
lachen wie eine Lösung
die keines Rätsels sich bewusst
Welche Zeit und welcher Ort ist uns wie lange ein Zuhause? Sich
heimisch fühlen in Worten und sich daran anlehnen mit dem
Wissen, dass Worte keine Grenzen kennen.
Marie Luise Kaschnitz
Spring vor
Für Wilhelm Lehmann
zum 80. Geburtstag
Spring vor, spring zurück,
Umarme den Taustrauch,
Begriiffe den Friihmond,
Berühre das Steinherz,
Wo sind wir zuhause
Bei Asche und Streuwind
Im Wolkenrot im Mohnrot
Im Hall zweier Stimmen
Im Fall zweier Schritte
Und Nirgends und Immer
Im Überallnie.
Liebe Marie Luise, ich danke Dir, dass ich mich an Deinen Worten
anlehnen durfte, für unsere Begegnung hier bei Wort und Schrift.
Hier und Jetzt in Karlsruhe. Wir haben überall die Unsrigen
in unseren Heimaten.
Zuweilen trifft man auf unerwarteten Wegen einen Gleichklang
der Empfindungen und Gedanken, selbst bei Begegnungen, die
nur in Geschriebenem stattfinden.
Marie Luise Kaschnitz
Zuweilen
Zuweilen schläft auch der Dichter
Der alte Verderber der Feste
Ausgezählt hat er sich selber
Gesunken ins Sterntalergras.
Schnellwachsender Traum überspinnt ihm
Die spähenden Augen
Auf seiner Schreibhand
Begatten sich Schmetterlinge
Seine Sturmvögel plappern wie Spatzen
Das liebliche Immer-schon-da
Zehra Cırak, geb. 1960 in Istanbul, kam mit drei Jahren nach
Deutschland, seit 1982 in Berlin, mehrfach preisgekrönte Lyrikerin und
Erzählerin, lebte und arbeitete mit dem Objektkünstler Jürgen Walter
zusammen, der 2014 verstorben ist. (Vgl. Tanja Diickers Nachrufauf
ihn in ZW Nr. 4/2014). — Ina Ricarda Kolck-Thudt würdigte Cırak
in ZW Nr. 4/2014 in dem Essay „Mein Thema waren immer die
Menschen an sich“. Am 27. Oktober werden Cırak und Kolck-Thudt
im Wiener Literarischen Quartier Alte Schmiede zusammen lesen.