OCR
— heute wohl noch immer ein Tabu für die spanische Tourismusindustrie trotz aller Bemühungen um eine adäquate spanische Erinnerungskultur, wie es die „Asociaciön para la Recuperaciön de la Memoria Histörica“ (ARMH - Vereinigung zur Rückgewinnung des historischen Gedächtnisses) seit einigen Jahrzehnten versucht: „Jede Nacht werden Männer und Frauen verhaftet und in der Stierkampfarena erschossen. Oder man findet Leichen in den Straßen von Palma. Das haben wir doch schon erlebt — und es ist die gleiche Redensart — ‚auf der Flucht erschossen!“ (Karl Otten: Der Umsturz auf Mallorca 1936) Nicht minder beeindruckend und zugleich beklemmend ist die z. T. sarkastische Gewissensund Erinnerungsprosa an die terroristischen Vorkommnisse auf Mallorca aus der Feder des parteilosen deutschen Exilanten Albert Vigoleis Thelen: ,,Noch eine Woche bei dieser Reizdiät, und auch wir pazifistisch verseuchten Tränenampeln hätten zur Pistole gegriffen und mit denen da draußen Gott zu Ehren und seinen Acker zu mehren übergeknallt. Abgestumpft waren wir schon. Ich wenigstens gestehe für meine Person, daß mich die Erschießung von 14 Menschen, deren Tod ich ungewollt herbeigeführt hatte, nicht um den Verstand brachte. Es führt zu weit [ich würde es dennoch lesen wollen K.M.], die tragischen Umstände eines Irrtums, der den Kreuzrittern Anlaß zu neuen Terrorakten gab, zu schildern. [...] Es ist ja das Wunderbare an jedem Kriege, dass der Mensch schon nach wenigen Greueltaten in den Schoß der Urgreuel zurückkehrt.“ Generell bemüht sich Hackl um eine Zusammenstellung der Texte, die keinerlei Harmonisierungen oder Idealisierungen erlaubt, so dass jederzeit die Spannungen, die inneren Widersprüche und Heterogenitäten der antifaschistischen, spanischen wie internationalen, Kräfte sichtbar bleiben. Hackl hat sich zur Aufgabe gemacht, bei aller Sympathie für die zersplitterte Linke alle nur denkbaren Facetten, die bewundernswürdigen wie die bedenklichen, die illusionistischen wie realistischen, die zeit- und raumübergreifenden ebenso wie die zeit- und raumgebundenen zu zeigen — jedenfalls eine für die Nachgeborenen faszinierende Zeitgenossenschaft von Betroffenen — in mehr oder minder gelungenen Darstellungen. Festgehalten soll auch werden, dass es wahrscheinlich dem Interesse des Schweizer Verlages zu verdanken ist, dass Hackl wiederholt die unterschiedlich gelagerten Schweiz-Beziige der Autorinnen und Autoren hervorhebt und damit den bisher kaum bis gar nicht beriicksichtigten Anteil der auf die eine oder andere Weise mit der Schweiz verbundenen Autorinnen und Autoren für die spanische Bürgerkriegsliteratur zeigen kann (z.B. bei Eduard Claudius, Edwin Gmür, Willy Hirzel, Hans Hutter, Erika Mann, Peter Merin, Ludwig Renn, Anna Siemsen, Gusti 52 ZWISCHENWELT Strindsberg, Clara und Paul Thalmann, Ernst Toller, Erich Weinert). Hackl präsentiert seine Anthologie in sieben Großkapiteln und ordnet nach thematischen Gesichtspunkten, etwa zum „Klang der Revolution“, zu „Angst und Heldentum“ sowie „Die Frage nach der Vergeblichkeit“. Vor diesem abschließenden Kapitel schiebt er als eine Art retardierendes Moment vor dem letzten Akt des historischen Dramas drei herausragende literarische Erzählungen von Rudolf Leonhard, EC. Weiskopf und, wie schon erwähnt, Anna Seghers ein. Sie gehören - aus literarischer Perspektive - zum Eindrucksvollsten der gesamten Sammlung, denn — gewissermaßen aus dem Off des Indirekten und scheinbar Unbeteiligten jenseits des sogenannten Faktizistischen und dennoch in plausibler Verquickung mit dem realen historischen Geschehen —, machen sie die bewegende Kraft fiktionaler Prosa deutlich: Die Erzählung Rudolf Leonhards ist eine Analyse einer präpotenten, satten Besitzerklasse und traditionalistischen Kaste jenseits der Grenze, die zuschaut und nichts verstehen kann/will, EC. Weiskopfs „Das goldene Äpfelchen“ und Anna Seghers „Agathe Schweigert“ sind zwei Mütter-Geschichten, die eine über Marina Kmetko, eine slowakische Tagelöhnerin, und die andere über Agathe aus dem Rheinland, eine kleine, politisch unbedarfte, aber liebevolle und letztlich auf der Suche nach ihrem Sohn in Perpignan und im Exil landende Ladenbesitzerin: Die idealistischen Söhne der beiden Frauen waren nach Spanien in den Kampf gegen den Faschismus gezogen — die zwei Erzählungen sind eine Art elegischen Abgesangs auf die beiden jungen Männer. Lässt man diese so überaus unterschiedlichen Texte Revue passieren, so sind einige Aspekte zu erkennen, die zeitgenössische Gefühls- und Bewusstseinslagen widerspiegeln und auf damals aktuelle Debatten verweisen: Krieg und/ oder Revolution ist eines der wiederkehrenden "Themen: revolutionäre Kultur und Kultur im Krieg; die Rolle der Frauen; selbstverständliche militärische Gewalt im Zeichen der Befreiung und Bewahrung der Republik/Demokratie, Siegeshoffnung/Sinnstiftung, Bewusstsein der Solidarität mit dem spanischen Volk - „Im Grunde genommen haften alle [...] diesen Krieg. Aber sie begriffen ihn als revolutionäres Mittel“ (Rudolf ‚Michel‘ Michaelis 1936), wenn sie ihn nicht als Abenteuer missverstanden -, aber auch Skepsis, Warnungen, pazifistische Überlegungen; Nicht-Einmischung europäischer Staaten als skandalöse Heuchelei; Analysen der aus vielen Herren Länder kommenden Kämpfenden und Analyse der militärischen Befehlsstrukturen; der illusionistische Glaube an eine neue revolutionäre Jugend; Erscheinungsformen der Angst und nicht zuletzt beeindruckende Einblicke in die übermenschlichen Hilfeleistungen von Ärzten und Sanitätsschwestern sowie die Erinnerung an konkrete Menschen aus allen Völkern und Nationen - angesichts des politischen und militärischen Scheiterns der republikanischen Kräfte im hellwachen Bewusstsein der Vergeblichkeit. Hackl hat recht, wenn er an das Ende seiner Sammlung das Dokument einer „übermenschlichen Anstrengung“ als „bitteres Postkriptum“ setzt, nämlich Ernst Iollers „Stichworte eines Scheiterns“ (1939), wie es Hackl nennt, nämlich das Scheitern einer international geplanten „Hilfsaktion für die notleidende Zivilbevölkerung“. Tollers „Stichworte“ vermitteln gewissermaßen protokollarisch aufeindringliche Weise die Gehetztheit und die Vergeblichkeit all seiner humanitären Bemühungen: „Was bleibt? [...] Traum und Wirklichkeit.“ Was man sich noch gewünscht hätte? Eine spanische Landkarte mit einigen wichtigen Ortsbezeichnungen (z.B. Casa de Campo, Las Rozas, Pozoblanco, Lopera, Valsain, Belchite), eine Kürzestchronologie der Ereignisse seit 1936 und ihrer Vorgeschichte, auch wenn sich so manches aus Erich Hackls Vorwort erschließen lässt, und Kurzkommentare zu einigen, für viele wohl nicht vertraute Begriffe (Infirmier, Brancardier u.a.m.). Hilfreich und erhellend jedoch fallen die bio-bibliographischen Angaben aus. Hackl hat auch einen Ausschnitt aus dem „lagebuch-Roman über den Spanischen Bürgerkrieg und das Los der Spanienkämpfer“ des Chefarztes der XIV. Internationalen Brigade Theodor Balk (d.i. Fodor Dragutin, geb. 1900) aufgenommen. Die Notiz ist mit 1.11.1937 datiert und wurde im Schloss von Aranjuez, wo der Brigadestab untergebracht war und in dem auch „Don Carlos die ach so schönen Tage mit seiner jungen, königlichen Stiefmutter verbrachte und in dem Marquis de Posa von seinem königlichen Herrn ‚Geben Sie Gedankenfreiheit, Sire!‘ gefordert hat.“ Da stößt der Chefarzt beim Durchforsten der „Briefschaften, Dokumente, Fotografien und Portfeuilles der Gefallenen“ im „Geruch einer Leichenhalle“ plötzlich auf den Brief einer Christine an einen Gefallenen namens Andre, dessen vollständiger Name aber nicht mehr zu rekonstruieren ist: „Man ist müde, um zu weinen, wie man müde ist zu lieben, wenn man bis zur Agonie gelitten hat. Die Liebesworte, die zartesten, die leidenschaftlichsten, erscheinen einem lächerlich. Abscheuliche Lügen. Warum von mir verlangen, dass ich Dir regelmäßig schreibe? Armer Andr£, was kann ich Dir sagen? Gehe Deinem Traum nach, mein Herz überfließt von Bitterkeit und Ekel. Meine Zärtlichkeit meine Küsse willst Du? Bien tristement A toi.“ Karl Müller Erich Hackl (Hg.): So weit uns Spaniens Hoffnung trug. Erzählungen und Berichte aus dem Spanischen Bürgerkrieg. 46 Texte deutschsprachiger Frauen und Männer aus sechs Ländern. Zürich: Rotpunkt 2016. 399 S. Euro 25,80