OCR
„Es gibt in Spanien kaum ein Thema in der politischen Auseinandersetzung, bei dem nicht irgendwo das Wort vom franquistischen Erbe auftauchen wiirde. Seien es die Debatten um die Unterrichtsreform, den konservativen Richterstand, das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, die Privilegien der Banken und Großbetriebe oder (...) die Konfrontation um den Autonomiestatus und die Unabhängigkeitsbestrebungen bestimmter Regionen, allen voran Katalonien und das Baskenland, ein Konflikt, der europaweit Aufmerksamkeit erregte.“ Bereits im Vorwort weist der aus Graz stammende, in Madrid als Universitätsprofessor für deutsche Sprache und Literatur lebende Georg Pichler die Leserin, den Leser auf die Gegenwärtigkeit der spanischen Geschichte von 1936 bis 1975 hin, von Beginn des Bürgerkriegs bis zu Francos Tod. In acht Abschnitten untersucht er seinen Gegenstand und bezieht differenziert Position. Sein in einem Schweizer Verlag erschienenes Werk fand bei Erscheinen vor drei Jahren zu wenig Beachtung, eignet sich aber ausgezeichnet, um achtzig Jahre nach Beginn des Bürgerkriegs die aktuelle Debatte in Spanien darüber nicht nur kennenzulernen, sondern zu verstehen. Erst vor vierzig Jahren endete mit dem Tod des Generals Franco das mit Hilfe Hitlers und Mussolinis im Bürgerkrieg von 1936-1939 an die Macht geputschte Regime. Im Unterschied zum Nachbarland Portugal und anderen vergleichbaren Ländern, deren Regime mit dem Begriff des Faschismus assoziiert oder charakterisiert werden, folgte aber in Spanien, wie Pichler schlüssig darlegt, kein Bruch mit dem alten Regime, sondern mit der zransiciön ein schleichender Übergang, dessen Besonderheiten bis heute ihre Wirkung tun. Als transicion wird der Zeitraum zwischen klerikalfaschistischer Diktatur und parlamentarischer Demokratie bezeichnet, wobei genauer Beginn und Endpunkt in Spanien bereits strittig sind. Wesentlicher Inhalt dieser transicién war nicht nur die Ende 1978 in Kraft getretene demokratische Verfassung, sondern insbesondere das vom Parlament 1977 beschlossene Amnestiegesetz. Dieses bedeutete faktisch die Straffreiheit sowohl für die Schreibtischtäter, als auch für die Folterknechte des Franco-Regimes, während es gleichzeitig den Opfern weitgehend die Möglichkeit verwehrte, juristische, materielle und moralische Wiedergutmachung zu erlangen. Der Autor nähert sich seinem Gegenstand durch eine Reihe von ausführlichen Interviews nicht nur mit Protagonisten beider Seiten, sondern auch mit renommierten, durchaus auf Distanz bedachten spanischen Persönlichkeiten (Beispiel: der Philosoph Reyes Mate, der für sein Buch Das Erbe des Vergessens 2009 den spanischen Nationalpreis für Essays erhielt). Pichler macht kein Hehl aus seiner Sympathie für die Seite der gegen den Franquismus unterlegenen Republikaner, scheut sich aber nicht, beispielsweise auch detaillierte, nahezu unkommentierte Interviews mit in Spanien bekannten Verteidigern des Franco-Regimes einzuschieben, um die Argumentationsweise dieser Seite nachvollziehbar zu machen (Pio Moa und Jaime Alonso). Ausgangs- und Schwerpunkt der heute in Spanien geführten Auseinandersetzung über die unvergangene Vergangenheit bildet und hier ist das Land ein weithin unbekannter Sonderfall das noch immer über weite Strecken vernachlässigte Schicksal der Bürgerkriegsopfer auf republikanischer Seite. Während die Opfer auf Seiten Francos seit Ende der auch von republikanischer Seite zuweilen brutal geführten militärischen Auseinandersetzung samt und sonders chrenvoll begraben, jahrzehntelang gewürdigt und in unvorstellbaren Zeremonien beweihräuchert worden waren, begannen die Nachkommen der in unzähligen Massengräbern an teilweise seit dem Krieg vergessenen Orten verscharrten Republikaner zunächst vereinzelt, dann als immer umfangreicheres movimento memoralista ihre Toten zu suchen, um sie würdig zu bestatten. Pichler schildert die mannigfachen Facetten dieser meist mühsamen, oftmals entwürdigenden Auseinandersetzungen mit der nachfranquistischen Staatsmacht, nicht ohne zugleich detailliert die jeweiligen „Gegenpositionen“ darzustellen, die sowohl von Verteidigern des Franco-Faschismus, als auch demokratisch gewendeten Vertretern des heutigen spanischen Staates gespeist werden. Ohne hier ins Detail gehen zu können - einiges davon kommt einem Österreicher, einer Österreicherin bekannt vor, so etwa die verbreitete „Leerformel von der geteilten Schuld“ (Pichler), das „unnütze Aufbrechen von Gräben“, die „Perpetuierung der Teilung der Gesellschaft“, oder die Benützung der Opfer als „Helden der Demokratie und der Freiheit“. Pichler hält demgegenüber fest: Man kann „den Umgang mit den beiden Klassen von Ermordeten nicht gleichsetzen. Tatsächlich erhielten die Hinterbliebenen der Opfer der Republik das, was die Hinterbliebenen der Opfer des Franquismus heute fordern: Wahrheit (doch keine partielle wie im Franquismus), Gerechtigkeit (jedoch nicht durch eine einseitige, ungerechte Justiz) und Wiedergutmachung (wenn auch nicht in Form von Geld, Ansehen oder durch die Vergabe von Lizenzen für Lotteriestellen oder Kioske).“ Demgegenüber bedeuten, so Pichler, die heute weit verbreiteten Apelle, eine „Aussöhnung von beiden Seiten“ zu verlangen, nur die Perpetuierung des franquistischen „Friedens“. Denn, so Pichler, „sie ‚vergessen‘, dass ‚die andere Seite‘ weder um Verzeihung gebeten noch Initiativen ergriffen hat, um diese Aussöhnung möglich zu machen.“ Außerdem falle damit unter den Tisch, dass die Einen eine rechtmäßig gewählte demokratische Staatsform, die Anderen einen unrechtmäßigen Militärputsch verteidigten. Zu alledem kommt der noch weithin ungeklärte Umgang mit den Gedächtnis- und Erinnerungszeichen des Faschismus, die dessen andauernde Präsenz im Leben des Landes aufrechterhalten und die Opfer auf republikanischer Seite und ihre Nachkommen beleidigen. Sowohl anhand herausragender Beispiele, als auch anschaulich erzählter „Kleinigkeiten“ wird für den Leser, die Leserin eine Gegenwärtigkeit des Franquismus und des Bürgerkriegs sichtbar, die in dieser Art und Weise meines Erachtens beispiellos ist. Ich erwähne hier nur die mir auch aus persönlicher Anschauung bekannte eigentlich unfassbare Monumentalarchitektur des „Valle de los Caidos“ (Tal der Gefallenen): Die in den felsigen Berg gehauene Basilika „ist die zweitgrößte katholische Kirche nach dem Petersdom, 261 Meter lang und 18 Meter breit, ihre Kuppel ist 41 Meter hoch. Das 46 Meter breite Kreuz, das den Bau krönt, ragt 150 Meter auf, mit dem Felsen, auf dem es steht, ist das Denkmal an die 300 Meter hoch und somit nicht viel kleiner als der Eiffelturm.“ (Pichler) Geschenkt, dass sich punktgenau unter der Kuppel das Grab Francos befindet, für den dort täglich die Messe gelesen wird. Von den aufbeiden Seiten der Basilika bzw. des Felsens befindlichen riesenhaften Aufmarschplätzen abgeschen. Schließlich noch ein für Spanien bedeutsames Detail, das Pichler sachkundig und informativ in einem gesonderten Abschnitt beschreibt: „Die drei Prozesse des Baltasar Garzön“. Das ist jener widersprüchliche und kontrovers diskutierte Untersuchungsrichter, der auch in unseren Breiten als derjenige bekannt wurde, auf dessen Betreiben hin Chiles Ex-Diktator Pinochet eine Zeit lang in London unter Hausarrest gestellt werden konnte. Pichler gelingt es nicht nur, diese schillernde Figur faszinierend zu schildern. Ebenfalls vermag er zu veranschaulichen, dass es auch die Blockierung der Verfolgung von mit dem Franquismus im Zusammenhang stehenden Straftaten infolge der transiciön ist, die juristisch abenteuerliche oder sonderbare Konstruktionen gebiert. Wer über den Umgang des heutigen Spanien mit seinen letzten acht Jahrzehnten gut erzählte Information, Klärung und Aufklärung sucht, ohnesich mit einfachen Antworten zufrieden zu geben, wer nicht damit hadert, am Ende dieses Buches dennoch auch mit offenen Fragen allein zu bleiben, der ist mit Georg Pichlers „Gegenwart der Vergangenheit“ bestens bedient. Das Buch erweitert jenen Blick, der bei der Aufarbeitung faschistischer Vergangenheit alles nur über den Kamm des Nationalsozialismus scheren zu müssen meint, diskutiert die heutigen spanischen Auseinandersetzungen mit Bürgerkrieg und Franquismus und gibt damit auch einen kritischen Blick auf das heutige Europa frei. Karl Wimmler Georg Pichler: Gegenwart der Vergangenheit. Die Kontroverse um Bürgerkrieg und Diktatur in Spanien. Zürich: Rotpunktverlag 2013. 333 5. €30,40 Oktober 2016 53