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vielen Schikanen erst 1963 die offizielle Auswanderungsbewilligung der rumänischen Regierung. Ihr erstes Ziel war Wien. Doch Wien war für jüdische EmigrantInnen ein hartes Pflaster. Auch Paul Celan hatte dies schon zu spüren bekommen und es gekränkt und enttäuscht in Richtung Paris verlassen. Und so verlässt auch das Ehepaar Silbermann nach einem Jahr Wien und versucht in Deutschland Fuß zu fassen. Kurze Zeit später wird Edith Silbermann unter dem Künstlernamen Edith Horowitz Wie Krebse in der Nacht Der Roman Wie Krebse in der Nacht besteht aus 27 philosophischen Lehrbriefen und Selbstgesprächen des jungen israelischen Möbelfabrikanten Jonathan Gartner an ein fiktives weibliches Gegenüber, genannt Shula. Der Autor und Icherzähler ist, wie der junge Staat, in dem er lebt, arm, kreativ und glücklich. Seine Ideale sind Goethe und der Renaissancemensch, aber er liest auch Marx, Engels, Freud, Romain Rolland und Nietzsche. Er möchte Lebenserfahrung sammeln. Seine Iraumpläne, in denen eran einen Wanderzirkus oder an die Mitarbeit an einer revolutionären Untergrundbewegung dachte, zerschlagen sich, und er tritt in die väterliche Firma ein. Er ist aber auch ein Mitglied der Jugendbewegung Schomer Hazair, denn: „Wie wunderschön ist es, ein einfacher Mensch zu sein!“ Besonders interessant ist das Kapitel, in dem Reuven Kritz ein Seminar bei Dov Sadan über Agnon beschreibt. Am letzten Termin nahm Agnon selbst teil: „Nach einer Stunde erzählte Agnon immer noch mit sichtlicher Freude Anekdoten, er hatte noch kein einziges Wort über als Interpretin jiddischer Lieder und jiddischer Dichtung Erfolge feiern. „Czernowitz — Stadt der Dichter“ lässt die LeserInnen noch einmal in eine versunkene Welt jiddisch-deutschsprachigen Lebens eintauchen, in eine Welt, die als eine „Insel“ inmitten eines Vielvölkergemisches bis zum Ende der k.u.k. Monarchie 1918 und darüber hinaus bestand. Reichhaltiges Bildmaterial und zwei CDs mit jiddischen Volks- und Kunstliedern, vorgetragen sich und sein Schaffen geäußert. Diplomaten hätten ihn um diese Fähigkeit, viel zu reden und nichts zu sagen, beneidet.“ Des Autors Fazit über Agnon lautet: „Manchmal ist die Schöpfung größer als der Schöpfer.“ In einigen Briefen streut Kritz Erinnerungen an seine Wiener Jugend in einer sozialistischen Familie im Arbeiterbezirk Ottakring und an das Dienstmädchen Mitzi aus Kärnten ein. Der Titel bezieht sich auf Krebse, die wie Gedanken in der Nacht zwicken, „als Sinnbild für analytisches, zerlegendes Denken“. Kritz denkt nach über die Selbsterziehung durch Selbstbeschreibung, er beschreibt sein erstes Erlebnis mit dem Tod auf einer Straße in Tel Aviv, die Erziehung zur Liebe durch eine Soldatin und erste erotische Erfahrungen. Der Autor Reuven Kritz, geboren als Rudolf Kritz 1928 in Wien, ist ein israelischer Romanautor und Literaturkritiker, der heute in Heidelberg lebt. Im November 1938 flüchtete er mit seinem Vater — dem Psychiater Leo Kritz — über Triest nach Palästina. Er war Mitglied der Kibbuzim Mizra und Mishmar haEmek, nahm „Ein Künstler, ein Wissenschaftler, eine Muse. Das Dreieck von Mutter, Vater und Kind. Von Geliebten und Eheleuten. Von Geburt und Tod und dem was dazwischen liegt.“ So umreißt Julya Rabinowich im Prolog ihres vierten Romans „Krötenliebe“ dessen Eckpunkte. Was liegt zwischen Geburt und Tod? Wohl das Leben oder, wie die Autorin schreibt (und damit vermutlich Ähnliches meint): „Was dazwischen liegt: Veränderung.“ Inspiriert von Autobiografien, Biografien, Briefen und Werken des Malers Oskar Kokoschka, des Biologen Paul Kammerer sowie der Grande-Dame der Wiener Moderne und verhinderten Komponistin Alma Mahler ist ein Buch entstanden, dessen Hauptfiguren die Namen, die Gesichter und Geschichten dieser drei prominenten Persönlichkeiten der Jahrhundertwende tragen. Es lässt — weder linear, noch auf Vollständigkeit bedacht - von Quellen nahegelegte, aber nicht unbedingt nachweisbare Szenen ihres Werdegangs, ihres Erfolges und ihres Scheiterns sowohl in den Sphären des Berufs, der Liebe als auch der Familie aufleben, aufleuchten oder auch nur kurz auflackern. Der Roman setzt im Jahre 1918 im Dresdner Atelier eines vom Krieg und dem Beziehungsende mit Alma Mahler stark mitgenommenen Oskar Kokoschka ein und schwingt bereits im nächsten Kapitel zurück in Almas Kindheit als Tochter des Landschaftsmalers Emil Jakob Schindler in und bei Wien in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. Anschließend wird noch Paul Kammerer eingeführt, der sich im Jahre 1912 bereits als Angestellter Hans Leo Przibrams in der Biologischen Versuchsanstalt im Wiener Prater an die nächtlichen Amphibienjagden seiner Jugend zurückerinnert. von Edith Silbermann, bringen einem diese Welt noch näher. Czernowitz ist übrigens Partnerstadt von Klagenfurt, worauf die Kärntner sehr stolz sind. Cecile Cordon Edith Silbermann: Czernowitz— Stadt der Dichter. Geschichte einer jüdischen Familie aus der Bukowina (1900-1948). Hg., dokumentiert und kommentiert von Amy-Diana Colin. Paderborn: Wilhelm Fink 2015. 401 S. € 49,90 am Unabhängigkeitskrieg, am Sechstagekrieg und am Jom Kippur Krieg teil und studierte an der Hebräischen Universität, an der er 1971 promovierte. Er hatte Gastprofessuren in Los Angeles, Boston und Heidelberg. In Israel publizierte Kritz zahlreiche hebräische Bücher und literaturwissenschaftliche Studien, zum Teil unter dem Pseudonym Ricky Keller. Bereits 1955 erhielt er den Barasch Preis für Jugendliteratur. In den letzten Jahren veröffentlichte er, übersetzt von ihm selbst und von Muni Poppendiek-Kritz, sieben deutschsprachige Werke, darunter Romane und Erzählungen. Besonders empfehlens- und lesenswert ist noch der Band Die Genies von Kiryat-Motzkin. Israelische Mini-Essays mit dem Kapitel „Mein Wien. Ein Selbstgespräch“. E.A. Reuven Kritz: Wie Krebse in der Nacht. Im Deutschen bearbeitet von Muni Poppendiek-Kritz und dem Autor. Ilustriert von Yona Kollmann. Norderstedt: Books on Demand 2009. 288 S. € 17,00 Hauptaustragungsort der Handlung bleibt — trotz zeitlichen und raumlichen Ausfliigen — Wien kurz vor, wahrend und nach dem Ersten Weltkrieg. Zu Beginn des Buches scheint es noch, als würden die politischen Ereignisse dieser Zeit lediglich eine Rahmenhandlung für die explizite Beschreibung der Besessenheit Oskar Kokoschkas und Paul Kammerers von Gustav Mahlers Witwe Alma abgeben. Genüsslich zieht die Autorin Oskar Kokoschka ins Lächerliche, indem sie seine Eifersuchtsanfälle, seine Heiratsanträge und die Anfertigung einer Alma-Puppe als Ersatz für die Geliebte schildert. Auch die vergeblichen Annäherungsversuche Paul Kammerers und die zunehmende Vernachlässigung seiner Familie zugunsten Alma Mahlers nehmen einigen Raum in Anspruch. Alma Mahler agiert scheinbar als eiskalte oder zumindest kühle Genie-Sammlerin, die ihre Liebhaber fallen lässt, Oktober 2016 55