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sobald diese ihren jeweiligen „Zenit“ überschritten haben. Doch mit dem Ersten Weltkrieg und seinen Folgen - hier liefert Rabinowich eine gelungene atmosphärische Beschreibung Wiens in den ersten Kriegstagen im August 1914 - verschiebt sich der Fokus der Erzählung, verändert sich das Leben der Charaktere, vor allem jenes des jüdischen Wissenschaftlers Paul Kammerer drastisch. In weiterer Folge beschreibt Rabinowich, wie mit dem Nationalsozialismus jene Welt, in der das Buch spielt, fast vollständig untergeht. Jedes der Kapitel ist dabei zumindest einem der zwei Protagonisten gewidmet oder aber — und zwar vorwiegend — der Protagonistin: Alma. Sie ist der Mittelpunkt eines kleinen Universums, Übertochter, Übermutter, Witwe, Muse und nicht zuletzt das stets zu weit entfernte Objekt der Begierde sowohl und nicht nur des Malers als auch des Wissenschaftlers. Anhand der Schicksalsschläge, die sie schon als Heranwachsende erleiden muss, zeichnet die Autorin die Entwicklung einer nach außen hin starken, aber innerlich oft verunsicherten Frau nach, die stets im Schatten von Männern agierte, deren bedeutendste Werke ohne sie wohl nicht zustande gekommen wären. Auf sprachlicher Ebene rückt hingegen eine andere Figur in den Vordergrund: Der bereits richtungsweisend betitelte Text ist durchzogen von Vergleichen und Anspielungen, die in die Sphäre des unter anderem mit Kröten, Salamandern, und Molchen experimentierenden Paul Kammerers führen. So stören das Kind Alma an Carl Moll, dem Schüler ihres Vaters und Geliebten ihrer Mutter, schon bei der ersten Begegnung die „nervös an seinem Kostüm umher suchenden Hände, die wie Eidechsen den Stoff hinauf- und hinunterliefen [...]“. Generell fällt der Roman mit einer außerordentlich bildhaften Ausdrucksweise auf, die es vermag, auch in kurzen, elliptischen Sätzen einen Raum, eine Stimmung, ein Gefühl einzufangen und wieder an den Leser freizugeben. Die erzählten Geschichten greifen einander dabei metaphorisch auf und fließen wie verschiedene Farben ineinander. Worte und Wendungen aus dem Künstler- und Musikerjargon, ebenso wie wissenschaftliche Ausdrücke verbinden die Lebenswelten der Charaktere. Die Empfindungen der jungen Alma in Erwartung eines neuen Meisterwerkes des Vaters werden folgendermaßen beschrieben: „Die Leinwände ihrer Innenwelt sind schon gespannt.“ An einer anderen Stelle wiederum beschleicht Oskar Kokoschka das Gefühl, Alma zu sezieren, indem Verstreutes Falsche Prognose — 1. November 1979. Die berühmte deutsche Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann erklärt in einem Fernsehinterview, die Neigung zu Radikalismen, ob nach rechts oder links, finde sich vor allem 56 ZWISCHENWELT er sie immer wieder malt. Stichwortgebend scheint auch in diesem Fall der feingeistige Paul Kammerer zu sein, der sowohl Musik als auch Biologie studiert hat und von dem es einmal heißt: „Ursprünglich erachtete er Kunst und Wissenschaft als artverwandt, [...] untrennbar miteinander verbunden und sich gegenseitig inspirierend.“ Hin und wieder schwächt leider auch ein Zuviel an Bildhaftigkeit einzelne Passagen, die dann wie begraben wirken unter allzu unterschiedlichen Metaphern. Beispielsweise werden die, aufgrund der zahlreichen, überlieferten Affären und Beziehungen Alma Mahler-Werfels nicht eben wenigen, erotischen Szenen zwar durchaus leidenschaftlich beschrieben, allerdings auch manchmal mit sehr groteskem Vokabular, das etwas zu bemüht Verweise herstellen will: „[...] er schwang wie das verdammte Foucaultsche Pendel [...]“. Einige wenige Worte und Redewendungen entsprechen außerdem keinesfalls dem zeitlichen Umfeld, in dem sich der Roman bewegt. Zwar liegt mit „Krötenliebe“ kein dezidiert „historischer Roman“ vor, aber auf die Verwendung eines Wortes wie „situationselastisch“ hätte zugunsten der Stimmigkeit dennoch verzichtet werden können. Formal beweist Julya Rabinowich wiederum einiges an Feingefühl: Vielleicht im Anklang an Paul Kammerers Idee vom „Gesetz der Serie“, laut dem es zwischen allen noch so kleinen, zufälligen Ereignissen einen Zusammenhang geben soll, arbeitet sie die vielen Parallelen, welche die Geschichten ihrer Charaktere aufweisen, höchst subtil heraus: Oskar Kokoschkas exzessiver Malrausch spiegelt sich in Paul Kammerers Arbeitsbesessenheit wieder, der Verlust des Vaters, den die zwölfjährige Alma verkraften muss, wiederholt sich für die Tochter eines der Protagonisten auf tragische Weise... Mittels Rückblenden und Vorausdeutungen in die nahe und ferne Zukunft der Charaktere werden außerdem zahlreiche Querverbindungen hergestellt. Die Autorin weiß, was auf ihre Figuren zukommt, sie lässt die Zukunft erzählerisch in deren Gegenwart wirken, baut dadurch Spannung auf, bettet den Text zeitlich ein und liefert interessante Hintergrundinformationen. Auch dies gibt dem Text trotz großer Handlungssprünge eine enorme Dichte. Bisweilen bremst eine solche Vorgehensweise aber auch den Erzählfluss oder wirkt cher beiläufig, etwa wenn der Tod eines von Almas Kindern lediglich in einem Nebensatz erwahnt wird. Stellenweise kann dem Text- auch aufgrund der Allwissenheit der Erzählerin und den bei Konfessionslosen. Eine soziale Schichtung glaubt sie nicht erkennen zu können. Die altehrwürdige Vorstellung, Religionszugehörigkeit behüte die Menschenmasse vor Fanatismus, war damals also noch strapazierbar, Hinweisen auf größere Zusammenhänge — durchaus eine essayistische Note zugesprochen werden. Insbesondere gegen Ende des Romans hin verstärkt sich dieser Eindruck und die letzten beiden Kapitel wie auch der Epilog wirken schließlich wie der Handlung nachgestellte Essays — und sind dabei alles andere als fehl am Platz, stellen mehr eine Gattungserweiterung denn einen Gattungsbruch dar. In ihnen werden nämlich die Anspielungen auf die politischen Zustände des Handlungszeitraums, welche Julya Rabinowich immer wieder in den Text einstreut, ausformuliert. Der damals allgegenwärtige Antisemitismus, ohne den auch Alma Mahler-Werfel nicht auszukommen schien, obwohl ein grofer Teil ihrer Freunde und Lebensgefahrten Juden waren, wird hier in all seinen Folgen, welche er fiir die Protagonisten und deren Umfeld hatte, geschildert und diskutiert. Die Flucht Franz Werfels und Alma Mahler-Werfels ins amerikanische Exil und die Enteignung und Ermordung des visionären Zoologen Hans Leo Prizbrams, des Gründers der Biologischen Versuchsanstalt, durch die Nationalsozialisten sind hier ebenso Thema wie die Diffamierung und der Tod Paul Kammerers sowie die ideologische Instrumentalisierung seiner Forschungsergebnisse durch die Sowjetunion, die damit ihre Theorie vom „Neuen Menschen“ untermauern wollte. Rabinowich schreibt über die unzureichende Aufarbeitung dieser Ereignisse: „[...] und was eine Stadt vergisst, daran erinnert sich auch sonst kaum noch jemand“. Sie stellt dieses Statement einer Verklärung und Verkitschung der Geschichte Wiens entgegen, im Zuge derer ein die Sensationslust bedienendes Paar wie Alma Mahler und Oskar Kokoschka von der Nachwelt mehr Aufmerksamkeit bekommt als ein jüdischer Wissenschaftler, der gemeinsam mit seinen Kollegen womöglich bahnbrechenden Erkenntnissen auf der Spur gewesen ist. Genau diese Mischung aus einer belletristischen Auseinandersetzung mitin Vergessenheit gedrängten historischen Persönlichkeiten und Fakten sowie der Neuinterpretation des Werdegangs und der Beziehungen Alma Mahler-Werfels macht „Krötenliebe“ zu einem wichtigen, unterhaltsamen, vielschichtigen und jedenfalls lesenswerten Roman. Ina Ricarda Kolck-Thudt Julya Rabinowich: Krötenliebe. Roman. Wien: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag 2016. 190 S. € 19,90 und Areligiosität fand sich als Keim des Aufruhrs denunziert. Mit derlei Wahnideen im Kopf wurde auch regiert.