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Die aktuelle Debatte über vermeintliche Flüchtlingskrisen, Türen mit Seitenflügeln und OberStaats- oder auch Toleranzgrenzen entbehrt nicht nur einem gewissen Schamgefühl, sondern auch jeder geschichtlichen Herangehensweise an die Entwicklung der österreichischen „Fremden“-, Asyl- und Flüchtlingspolitik. Diesem Defizit begegnet das neue Buch aus dem Mandelbaumverlag von Lisa Grösel. Sie hat die Geschichte einer Politik zwischen Integration und Ausgrenzung nachverfolgt und sich mit ihr, wie bereits das Abstract verrät, aus „kapitalismus- und staatskritischer Perspektive“ auseinandergesetzt. Es ist eine Geschichte von permanenten juristischen wie sozialen Verschärfungen, von Menschenverachtung, Ausbeutung und Verwertungslogik. Grösel ging es aber um mehr als bloß die eine oder andere politische Entgleisung zu beklagen, ihr ging es um die wissenschaftliche Aufarbeitung einer Systematik, die hinter dieser Politik steht. Dafür wühlte sich die Autorin durch eine 50-jährige Gesetzeswulst und erspart ihrem Publikum auch nicht die politischen Phrasen und Konzepte, mit denen die jeweiligen Veränderungen in der so genannten Fremdenpolitik einhergingen. Dabei beschränkt sich das Buch nicht auf die innenpolitischen Besonderheiten, sondern stellt die österreichische Asylpolitik in einen Kontext mit einer europaweiten Migrationspolitik, wie sie insbesondere im Rahmen der Europäischen Union und ihren Instrumenten (wie Frontex oder Europol) stattfindet. Ein besonderes Verdienst des Buches ist es außerdem, auf die Zusammenhänge zwischen der jeweiligen aggressiven westlichen Außenpolitik und den daraus resultierenden Fluchtbewegungen hinzuweisen, worauf im primär humanitären Flüchtlingsengagement oft vergessen wird. Grösel zeigt aber auch auf, wie im Schatten einer repressiven Migrationspolitik die Repression gegen die Gesamt- und damit auch gegen die Mehrheitsbevölkerung verschärft wurde. Apropos Grenzen: Dass diese Expedition durch das institutionelle Herz der rassistischen Finsternis nach fast 300 Seiten doch noch beinahe optimistisch und mit einer konkreten Widerstandsperspektive endet, grenzt selbst an ein Wunder. Hubert Krammer Lisa Grösel: Fremde von Staats wegen. 50 Jahre „Fremdenpolitik“ in Österreich. Wien: Mandelbaum 2015. 320 S. € 19,90 Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren in Österreich zur Ahndung von NS-Verbrechen die sogenannten Volksgerichte eingerichtet worden. Der Großteil der Ermittlungstatigkeit und der Urteile entfiel auf die Jahre bis 1948, dann ließ der Elan deutlich nach. Denn schon ab 1947 setzten sich die politischen Parteien für die Reintegration der ehemaligen Nationalsozialisten ein, die nun potentielle Wähler waren. Nur einem Veto der Alliierten war es zu verdanken, dass die Volksgerichte erst 1955, nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages und dem Abzug der Besatzungsmächte, abgeschafft wurden. Der Prozess gegen Alfred Weber im Juni 1956 war der erste wegen nationalsozialistischer Verbrechen, der vor einem Geschworenengericht stattfand. Er war auch der erste in einer Reihe solcher Prozesse, die mit überaus fragwürdigen Freisprüchen endeten. Alfred Weber hatte in der Nacht vom 28. auf den 29. März 1945 gemeinsam mit drei Angehörigen der Waffen-SS die Entscheidung getroffen, die damals im südburgenländischen Deutsch Schützen befindlichen ungarisch-jüdischen Zwangsarbeiter zu erschießen. Am Morgen des 29. März waren mindestens 57 dieser Menschen tatsächlich auf kaltblütige Weise liquidiert worden. 2008 befasste sich Andreas Forster im Rahmen eines politikwissenschaftlichen Forschungspraktikums an der Universitat Wien mit diesem Massaker und wertete dazu die Gerichtsakten zum Prozess gegen Alfred Weber sowie zu einem Prozess im Jahr 1946 aus, in dem fiinf beteiligte HJ-Fiihrer wegen Beihilfe zum Mord verurteilt worden waren. Die drei Angehörigen der Waffen-SS, die die Hinrichtung ausgeführt hatten, wurden nie vor Gericht gestellt. Zwei von ihnen konnten nicht ausgeforscht werden, der Name des dritten — Storms — wurde jedoch in beiden Prozessen von mehreren Zeugen genannt. Derselben Person wurde auch die Tötung eines weiteren, nicht mehr gehfähigen Juden beim Evakuierungsmarsch der überlebenden Juden Richtung Hartberg zur Last gelegt. Gefahndet wurde nach diesem Mann allerdings nicht. Im Bundesarchiv Berlin stieß Andreas Forster auf das Heiratsansuchen eines Adolf Storms, der 1919 in der Nahe von Duisburg geboren worden war und als SS-Unterscharfiihrer der Waffen-SS Division „Wiking“ angehört hatte. Ein Blick in das elektronische Telefonbuch der BRD ergab, dass ein Mann dieses Namens tatsächlich noch in Duisburg lebte. Forster riefan und Storms bekannte unumwunden, Mitglied der SS gewesen zu sein. Wenige Wochen später, an einem Julitag des Jahres 2008, stand Walter Manoschek, der Professor für Politikwissenschaft, der das erwähnte Forschungspraktikum geleitet hatte, unangemeldet in der Kleingartensiedlung am Rande von Duisburg und läutete bei Storms an. Dieser öffnete und willigte ein, mit dem Wissenschaftler ein Gespräch über seine Kriegsvergangenheit zu führen. Im Garten stach Manoschek ein großer Stein ins Auge, der die vielsagende Aufschrift trug: „Hier hausen Adolf und Enkel.“ Während des ersten Treffens vermied es Manoschek noch, das Massaker in Deutsch Schützen anzusprechen. Doch schon am nächsten Tag, als erin Begleitung eines Kameramannes wiederkam, lenkte er das Gespräch auf die Mordaktion und die Gerichtsakten. Storms räumte ein, zum fraglichen Zeitpunkt in Deutsch Schützen gewesen zu sein, behauptete aber, sich an die Tat nicht erinnern zu können. Statt den Kontakt mit dem Forscher abzubrechen, wie Manoschek befürchtet hatte, rief ihn Storms überraschend wenige Tage später mit verzweifelter Stimme an - die Sache lasse ihm keine Ruhe mehr: „Wenn das stimmt, dann bin ich ja ein Mörder!“ „Wenn das zutrifft, wenn das zutrifft, dann bin ich wirklich ein Mörder, dann muss ich die Konsequenzen ziehen.“ Gleichzeitig beharrte er auf seinen Gedachtnisliicken: ,,Irgendwie ist da was, aber ich komme nicht dahinter. (...) Das ist alles in der Versenkung versunken und man hat es nie mehr rausgeholt.“ Beim folgenden persönlichen Gespräch wenige Tage später bat Storms Manoschek sogar, ihm beim Wiederfinden seiner Erinnerung behilflich zu sein. Während des Telefonats war Storms emotional höchst aufgewühlt gewesen, beim darauffolgenden Treffen hatte er sich wieder fest im Griff. Er machte bei den Sitzungen insgesamt einen geistig klaren Eindruck und es zeigte sich, dass andere Erinnerungen bei ihm noch sehr lebendig waren — etwa die an seine Todesangst während der letzten Kriegsmonate, als er versprengt worden war und sich allein durch die feindlichen Linien nach Österreich durchgekämpft hatte, oder jene an die Furcht, von der deutschen Feldgendarmerie als vermeintlicher Deserteur hingerichtet zu werden. „Man war ja“, so Storms Resümee, „selbst ein armes Schwein.“ Den für den nächsten Tag vereinbarten Interviewtermin sagte Storms ab. Die Erzählungen über seinen Einsatz im Osten hätten ihn zu sehr Oktober 2016 63