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ich an die Tausende draußen denke, geht es mir nicht herrlich? Mein Kind ist in Sicherheit — das ist das wunderbarste.“ Im Herbst 1943 begann sich Milenas Gesundheitszustand rapide zu verschlechtern. Am 17. Mai 1944 starb sie im KZ Ravensbrück an den Folgen einer Nierenoperation im Alter von 47 Jahren. Über die letzten Stunden Milenas berichtet Margarete Renate Welsh Ringsum werden Mauern gebaut Rede, gehalten aus Anlass der Verleihung der Preise der Stadt Wien am 9. November 2016 im Wiener Rathaus. — Die Autorin wurde mit dem Preis für Literatur ausgezeichnet. Ringsum werden Mauern gebaut. Baumaterial könnte man doch sehr viel besser einsetzen: für Schulen zum Beispiel, in denen Lehren und Lernen Freude macht, für Wohnungen, für Brücken, auch für Aussichtstürme, die einen weiten Blick erlauben. Aber es werden Mauern gebaut, immer höhere — zum Schutz unserer Werte, unserer europäischen, abendländischen Werte, unserer schönen Heimat, auf die die Fremden begehrliche Augen geworfen haben. Peinlich nur, dass wir von wesentlichen Aspekten dieses kostbaren abendländischen Erbes keine Ahnung hätten, wenn nicht zum Beispiel Araber und Juden die griechischen Philosophen für uns gerettet hätten, indem sie die klassischen Texte in Toledo übersetzten und vor dem endgültigen Vergessen bewahrten. An unserer Wohnungstür hängt das Plakat einer Ausstellung im Museum der Stadt Wien von 1996 mit dem Titel WIR. Zur Geschichte und Gegenwart der Zuwanderung nach Wien. Darauf breitet ein mächtiger Baum starke Äste aus, auf den grünen Blättern stehen die Namen all derer, die hier ihre Spuren hinterlassen haben, von Afrikanern über Kelten bis zu Ukrainern und Vorarlbergern. Wenn wir uns der Vielfalt dieses Erbes bewusst sind, können wir auf dieser Grundlage etwas Neues errichten. Wenn wir die Vielfalt leugnen, berauben wir uns selbst, lassen mutwillig Ansätze verkümmern, die vielleicht besonders wichtig geworden wären. Wollte man alles Fremde aus jenen Traditionen entfernen, die für viele den Begriff Heimat schlechthin ausmachen, bliebe nur ein recht kläglicher Rest, wahrscheinlich sogar gar nichts übrig. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass Vielfalt eine Gefahr für die Eigenständigkeit darstelle. Ich bin überzeugt, dass Eigenständigkeit sich gerade dann am lebendigsten entwickeln kann, wenn das ganz und gar Andere ebenso Achtung und Anerkennung findet. Dann wird jene Form von kreativer Auseinandersetzung und Reibung möglich, die eine Aufwärtsspirale erzeugen kann. Kultur in all ihren Ausdrucksformen hat hier eine wesentliche, vermittelnde und Mut machende Aufgabe. Der Vormarsch der Rechtsextremen bezieht seine Dynamik auch daraus, dass sie als Anwälte jener Werte auftreten, die sie in Wahrheit missbrauchen und zerstören. Kultur und Nationalismus sind unvereinbare Gegensätze: Indem der Nationalismus das Fremde bekämpft, bekämpft er auch wesentliche Anteile der eigenen Kultur, deren Aufgabe nur mehr darin besteht, Menschen massentauglich zu machen statt sie in ihrer Individualität zu bestärken. Mauern können unsere Werte nicht retten, sie können sie nur gefährden. 6 _ ZWISCHENWELT Buber wenige Monate später in einem Briefan Milenas Vater Jan Jesensky, den sie mit den Worten beschließt: „Durch ihr Leben hat Milena Ewiges geschaffen.“ Seit 1994 wird Milena Jesenskä von der israelischen HolocaustGedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt. Es scheint mir Programm und Auftrag zu sein, dass die Stadt Wien die Vertreter verschiedener Sparten gemeinsam chrt. Die Probleme, vor denen wir stehen, können ja längst nicht mehr innerhalb eines Fachgebietes gelöst werden, sondern dort, wo sich die Bereiche überschneiden und dadurch Zusammenarbeit immer notwendiger wird. Zusammenarbeit setzt Zuhören voraus, setzt voraus, nicht vorschnell zu glauben, man hätte verstanden, noch weniger geht es an, Lösungen anzubieten, die sich meist besonders eilfertig andienern, wenn man die ganze Komplexität einer Frage nicht kennt. Wer nie gelernt hat, der eigenen Sprache zu vertrauen und ein gesundes Selbstbewusstsein zu entwickeln, wird kaum den Mut haben, sich auf unsicheres Terrain zu begeben, verschiedene Möglichkeiten offen zu lassen. Darum sind Populisten so verlässliche Lieferanten einfacher Lösungen und eher bereit, die Wirklichkeit anzuzweifeln als ihre eigene Antwort darauf. Allzu viele lassen sich leicht damit ruhig stellen, dass sie wenigstens nicht zu jenen gehören und Sündenböcke finden sich immer schnell. Angesichts dessen, was täglich an neuen Schrecklichkeiten über uns hereinbricht, ist es schwer, nicht in Mutlosigkeit zu verfallen, in einen lähmenden Pessimismus, der zuletzt den resignierten Rückzug in völlige Privatheit legitimiert und damit den Weg freimacht für die, die behaupten, im Besitz aller Antworten zu sein. Ich glaube daran, dass sie es sind, vor denen wir uns hüten müssen. Die Aufgabe der Kultur ist es doch immer wieder, Fragen zu stellen, nachzufragen. Es ist so, so ist es — muss es so sein? Kann man das auch ganz anders sehen? Diese schlichten Fragen müssen wir immer wieder neu stellen, wenn wir lebendig bleiben wollen. Dies bedeutet nicht permanente Verunsicherung, sondern vielmehr eine ständige Bereitschaft, offen zu sein, sich neuen Erfahrungen zu stellen, die Wirklichkeit an sich heranzulassen. Ich werde den Satz nie vergessen, den mir unsere alte Hausmeisterin als eine ihrer Weisheiten für's Leben mitgegeben hat: „Du bist ein g’scheites Mädel, aber es gibt keinen Tepperten, von dem du nicht noch was lernen könntest.“ Das Furchtbare, das Böse drängt sich auf — es ist höchst gefährlich, es nicht zur Kenntnis zu nehmen, es zu übertünchen, unter irgendwelche Teppiche zu kehren. Das Gute und Schöne oder zumindest die Sehnsucht danach ist aber ebenso Teil der Wirklichkeit, auch wenn man es oft weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick sicht, sondern sehr genau schauen muss, um es zu entdecken. Dabei ist es besonders wichtig, sich nicht von Behübschungen und Maskeraden aller Art täuschen zu lassen, weil diese in schr gefährliche Abgründe führen. Ich fürchte die Angstmacher, die die Eckpfeiler der Demokratie gefährden, indem sie die Menschenrechte zur Disposition