gepflasterten Altstadtgassen. Die Krim ist weg, für das Ausland
reicht das Geld nicht. Dazu kommen Flüchtlinge aus dem Don¬
bass. Mit Erstaunen lausche ich russischen Popsongs, die Donez¬
ker Burschen zum Besten geben. Die übergriffigen patriotischen
Heimatschützer, die ich vor meinem Auge schon aufmarschieren
sehe, bleiben aus. Alles ruhig, Sommer, Sonne, Kaktus.
Die Gymnasiallehrerin Inna K. kennt die Sorgen ukrainischer
Soldatenmütter aus eigener Erfahrung, war doch ihr Sohn bis vor
kurzem im 1.200 Kilometer entfernten Donbass stationiert. Nach
bangen Monaten ist der Jungvater nach Lviv zurückgekehrt - Inna
kann ihre Energien wieder dem Unterricht und dem Schüleraus¬
tausch mit Wien widmen. Ihr Familienstammbaum illustriert das
einstige Kolorit der geliebten Heimatstadt gut: Der Großvater trug
den deutschen Namen Schutter und kämpfte als Offizier in der
k.u.k. Armee. Und da ihre Mutter Polin war, spricht Inna neben
Ukrainisch, Russisch und Deutsch auch diese Sprache fließend.
Man muss nicht erst nach Donezk fahren, um den Atem Mos¬
kaus zu spüren. Das altehrwürdige Kloster Potschajiw befindet sich
140 Kilometer östlich von Lviv. Die Verwaltungseinteilung will
es, dass man kurz vor der Ankunft zwei Oblast-Grenzen passiert:
Zunächst bei Brody jene zwischen den Gebieten Lemberg und
Riwne und kurz darauf, schon nach Radywyliw, die zwischen
Riwne und Ternopil. Was heute kein Problem darstellt, bedeu¬
tete bis zum Ersten Weltkrieg die Überquerung der Staatsgrenze
zwischen Österreich-Ungarn und dem Zarenreich. Schlossen die
meisten europäischen Staaten Europas, ähnlich dem heutigen
Schengenraum, Abkommen zur Beseitigung der Visapflicht, so
blieb Russland die Ausnahme: Hier stand man wie heute bei den
Konsulaten an. Für die überwiegend jüdischen, ukrainischen
und polnischen Bewohner der Grenzbezirke gab es Legitimati¬
onskarten, die den Übertritt erleichterten. Doch auch illegaler
Grenzübertritt und Schmuggel gehörten zum Alltag. Der aus der
Nähe von Kiew stammende Scholem Alejchem, der selbst 1905
in die USA emigrierte, lässt seinen kindlichen Helden Motl (Sohn
des Kantors) der Grenze als Erlebnis förmlich entgegenfiebern.
Grenze wird als reales, greifbares Objekt imaginiert. Es ist ein
Ding — mit dem Geschmack von Gefahr und Abenteuer:
Ich kann es kaum erwarten, dieses Ding Grenze zu sehen und zu
erleben, wie wir uns hinüberstehlen [...] Wifst ihr, wohin wir gera¬
ten sind? Nach Brody! Ich glaube, wir sind schon in der Nähe von
Amerika. [...] Wir alle erinnern uns zu gut an den Geschmack der
Grenze. Und wir erzählen jedem unsere Geschichte, wie wir uns über
die Grenze gestohlen haben, wie uns die Frau den Unbeschnittenen
ausgeliefert hat, die uns über die Grenze bringen sollten, wie die
Männer uns in einen Wald geführt, wie sie uns irregeführt haben
und uns umbringen wollten.
Östlich dieser ehemaligen Scheidelinie, 30 Kilometer von Brody
entfernt, steht also das Kloster Potschajiw mächtig über dem
gleichnamigen Dorf: Im 18. Jahrhundert noch der griechisch¬
katholischen Kirche zugehörig, fiel es unter zaristischer Herrschaft
an die russisch-orthodoxe Kirche zurück und diente als Bollwerk
und Leuchtturm der Staatskirche. Bis heute trägt es den Titel
„Lawra“, eine Ehrenbezeichnung, die in der heutigen Ukraine
nur noch zwei weiteren Klöstern zukommt. Von unserer Führerin
Oksana Karlina von der Universität Luzk hören wir von den Le¬
genden rund um die Wunderikone und den Fußabdruck Maria.
Ein prominenter Besucher, der sich im Jahr 1773 hierher verirrte,
war Joseph II. Er befand sich damals auf Erkundungsreise entlang
der neu gezogenen Grenze. In Erstaunen versetzt die österreichi¬
schen Studenten dann die detaillierte Sündentafel im Innenraum
der Hauptkirche: Neben Ruhmsucht und Geiz finden sich in der
langen Liste das Hören von Rock- und Popmusik, das Rauchen
sowie das Beten in Gotteshäusern abweichender Konfession. Und
am Ausgang der Anlage fällt eine große Schautafel auf, die den
Baum der christlichen Kirche zeigt: Während der Hauptstamm
der „einheitlichen, heiligen, apostolischen orthodoxen Kirche“
in vollem Lebenssaft steht, sehen wir die anderen christlichen
Denominationen als abgestorbene Äste.
Der Kampf um die Seelen wurde hier von jeher mit besonderer
Intensität geführt, befand man sich doch bald nach den Teilungen
Polens auch an der Grenze zwischen den Einflusssphären Roms
und Moskaus. Und bis heute ist das Kloster Zankapfel: Denn
während die umliegenden Pfarren überwiegend zur griechisch¬
katholischen Kirche oder zum orthodoxen Kiewer Patriarchats
gehören, untersteht Potschajiw nach wie vor dem russisch-ortho¬
doxen Patriarchen von Moskau. Erst diesen Juli beherrschte eine
umstrittene Wallfahrt von Potschajiw nach Kiew die Titelseiten
der Regionalpresse.
Von Lemberg fahren wir über die Karpaten nach Uschhorod,
der Hauptstadt des westlichsten Landesteils Transkarpatien. Die
lange Zugehörigkeit zu Ungarn sowie der Karpatenkamm als
Begrenzung im Osten zählen zu prägenden historischen und
mentalen Faktoren. Die österreichischen Studenten reisen von
hier über KoSice nach Wien zurück. Bevor es für mich weiter
zu den Landlern geht, erklimme ich den Schlossberg über der
breiten Usch und gönne mir eine Verkostung von Weinen aus
dem Bezirk Berehowe, dem ukrainischen Teil der pannonischen
Tiefebene, auf die man vom Schloss aus hinuntersieht
Am 24. August warte ich auf den Linienbus nach Tjatschiw.
Es ist ukrainischer Nationalfeiertag, Tag der Unabhängigkeit. Er
jährt sich zum 25. Male. Im Bahnhofswarteraum verfolgen einige
Fahrgäste beiläufig die Übertragung der Paraden und Reden.
Poroschenko hat viel an Kredit verspielt, der Krieg im Osten
hält an, die Preise sind hoch und von der Krim redet man kaum
noch. Die Fahrt verläuft über Mukatschewo und Chust. Auf der
anderen Seite der Grenze wird Ungarn von Rumänien abgelöst.
Generell wird das friedliche Miteinander im „multinationalen
Transkarpatien“ großgeschrieben. Entsprechende Parolen hört