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Elisabeth Malleier Andreas Hofer in Jerusalem Erinnerung an die Begegnung mit der Bibliothekarin und Übersetzerin Anna Esther Steinbaum (1918 — 2000) aus Czernowitz Es gibt einen Charme älterer Menschen, der weniger dem einen oder anderen Geschlecht gilt als vielmehr, so scheint es, der Jugend. Einer solchen Charmeattacke erlag ich, als ich vor nunmehr zwanzig Jahren in Jerusalem Anna Esther Steinbaum kennenlernte. Eine lebhafte ältere Dame betrat den Lesesaal des Leo BaeckInstituts. Sie erzählte, dass sie sich gerade verirrt habe auf dem kurzen Weg von ihrer Wohnung in die Bibliothek. Der Schalk saß ihr in den Augen, als sie dies darauf zurückführte, dass jemand mit einem leeren Gefäß in der Hand ihren Weg gekreuzt hatte, als sie außer Haus ging. „Wenn so was passiert, dann geht alles schief und man kehrt am besten wieder um, denn dagegen gibt es kein Mittel“, erklärte sie mit Bestimmtheit. Im Unterschied etwa zur Begegnung mit einer schwarzen Katze, da genüge es, sich zehnmal umzudrehen. Und Glück bringt’s, wenn man einem Kaminkehrer oder einem weißen Pferd begegnet, allerdings müsse man sich bei letzterem am Mantelknopf fassen. Das hätten sie damals als Kinder immer gemacht, wenn sie auf dem Schulweg einem weißen Pferd begegneten. Anna Esther Steinbaums Schulweg befand sich in Czernowitz. Am Tag, an dem wir uns kennenlernten, brachte sie einen Band Damenwitze zurück in die kleine Bibliothek des Leo Baeck-Instituts und als Geschenk für die Bibliothek einen Gedichtband von Christian Morgenstern. Sie sei dabei ihre Bibliothek aufzulösen, erzählte sie, und mit ihren 79 Jahren sei die Zeit nicht mehr weit, in der ihre Erben mit den Büchern nichts anzufangen wissen werden, weil sie nicht Deutsch können. Bücher waren ihr Lebensinhalt, vertraute sie mir wenig später an, als ich ihr aufihre Einladung hin Gesellschaft auf dem Nachauseweg leistete - und wir uns gemeinsam verirrten. Sie wollte mir die Gedichte einer jungen Dichterin aus Czernowitz zeigen und lud mich auf einen Sonntagnachmittagskaffee ein. Der Apfelstrudel aus einer nahe gelegenen Bäckerei, den ich zu unserem Treffen ins Altersheim in der Rahel Imenu Straße mitbrachte, war schr gut. Anna Esther Steinbaum war ausgebildete Bibliothekarin, Jahrgang 1918. Bis zu ihrer Auswanderung nach Israel Anfang der 1970er Jahre hatte sie viele Jahre in der Universitätsbibliothek in Czernowitz gearbeitet. In Israel war sie dann in ihrem Beruf bis zur ihrer Pensionierung im „Haus der GhettokämpferInnen“ tätig gewesen. Diese Einrichtung war im April 1949 im Kibbutz Lohamei Haghetaot mit der Zielsetzung errichtet worden, Zeugnisse der Kämpfe und des Widerstandes osteuropäischer Jüdinnen und Juden gegen ihre Vernichtung während des Zweiten Weltkrieges zu sammeln und zu veröffentlichen. Für diese Arbeit war Steinbaum bestens geeignet, sie sprach Deutsch, Rumänisch, Russisch und Jiddisch Hießend und arbeitete auch mit Englisch, Französisch und Hebräisch. Außerdem übersetzte sie Lyrik von Czernowitzer Dichtern aus dem Jiddischen ins Deutsche, Gedichte von Itzig Manger (1901 — 1969), Chaim Zeltzer (1913 — 1995), Moshe Teif (1904 — 1965). Ein schmaler Band mit ihren Übersetzungen erschien 1993 in Jerusalem. Ihre Mutter und ihre Schwestern waren bereits nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nach Israel ausgewandert, aber Anna Esthers erster Mann wollte nicht auswandern. Er war überzeugter Sozialist, aber kein Zionist und sah seine künftige Existenz als Künstler in der UdSSR. Erst nach dem Tod ihres zweiten Mannes zog Anna Esther Steinbaum mit ihrer damals schwangeren Tochter und deren Mann nach Israel. Es sei ein Glück gewesen, dass sie nach ihrer Ankunft schon bald wieder in ihrem Beruf arbeiten konnte, meinte sie. Bis zum Jahr 1941 hatte sie in Czernowitz in einem Kinderheim gearbeitet. Den Krieg überlebte sie in Sibirien in der Nähe von Omsk. Bei den Bauern in den Dörfern blieb sie vom Hunger einigermaßen verschont. Viele Menschen verhungerten damals, wie Margit Bartfeld-Feller erzählt, die im Jahr 1941 mit ihrer Familie aus Czernowitz nach Sibirien deportiert worden war. Bei einem weiteren Israelaufenthalt im Frühjahr 2000 besuchte ich Anna Esther Steinbaum wieder. Sie verbrachte inzwischen die meiste Zeit im Bett. Manchmal verwirrten sich ihre Gedanken, aber sie war immer noch guter Dinge und sang mir deutsche Volkslieder vor. Als ich sie verließ, hallte das Andreas Hofer-Lied „Zu Mantua in Banden“ für mich, die Südtirolerin, durch das Jerusalemer Altersheim, gesungen von einer Czernowitzerin. Ich dachte an Anna Esther Steinbaum, als ich im Jahr 2007 durch die hügeligen Straßen von Czernowitz wanderte. Viele Kirschbäume gibt es dort, die Äste hingen voller Früchte. Die k. k. Atmosphäre war in der renovierten Altstadt noch deutlich zu spüren und erinnerte mich an Meran. Die Gedichte, die mir Anna Esther Steinbaum damals zeigen wollte, waren jene von Selma Meerbaum-Eisinger. Elisabeth Malleier , geb. 1961 in Meran. Historikerin. Wien/Meran. Bücher u.a.: Jüdische Frauen in Wien 1816-1938 (Wien 2003); Das Ottakringer Settlement. Zur Geschichte eines frühen internationalen Sozialprojekts (Wien 2005). Heuer erschien ihre Spurensuche „Rabenmutterland“ im Drava Verlag, Klagenfurt/Celovec. Literatur Anna Ester Steinbaum. Gedichte und Balladen. Itzig Manger Chaim Zeltzer. Jerusalem 1993. (Übersetzungen der Gedichte aus dem Jiddischen in hebräischer Schrift ins Deutsche.) Efrat Gal-El. Niemandssprache. Itzik Manger, ein europäischer Dichter. Frankfurt/M. 2016. Dies.: Itzik Manger. Dunkelgold. Gedichte. Frankfurt/M. 2004. Margit Bartfeld-Feller: Am östlichen Fenster. Gesammelte Geschichten aus Czernowitz und aus der sibirischen Verbannung. Konstanz 2002. Dezember 2016 21