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am Verschweigen beteiligt und sich in vorgeblicher oder wirklicher Unwissenheit gut zurechtzufinden vermeint. Antiziganismus erfuhr Stefan Horvath am eigenen Leibe, mit den geistigen Folgen des wahnhaften, antimodernen Antisemitismus sah sich Gerhard Scheit in all seinen Studien konfrontiert. Das Aufarbeiten brauchte seine Zeit und brauchte Menschen, die bereit waren, einen langen Weg zu gehen. Aufarbeiten bedeutet hier nicht allein die Beseitigung von Lücken unseres Wissens durch den Historiker, sondern ebenso Reflexion des eigenen Standpunktes. Auf welchem Boden, in welchen Traditionen, mentalitätsgeschichtlichen Kontinuitäten bewegte man sich überhaupt, wo konnte man wieder anknüpfen? Existierte da nicht einst eine Aufklärung, eine große, humanistisch orientierte deutsche Philosophie, ein Verständnis der ökonomischen Prozesse, das die Probleme der Menschen anders als mit rassistisch oder sozialdarwinistisch unterfütterten Feindbildern erklären konnte? Wie war es möglich, daß in einem Land, das einen Goethe, Kant, Heine, Marx hervorgebracht hatte, Hiders „Mein Kampf“ zur neuen Hausbibel werden konnte? Es waren dies Fragen, die schon im Exil gestellt worden waren, Fragen, die erst wieder neu zu stellen waren, nachdem die prekäre Verbindung mit den Vertriebenen in den späten 1950er und 1960er Jahren fast gänzlich unterbrochen worden war. Fir Stefan Horvath stellten sich diese Fragen in anderer Weise: Wo fand er Menschen, denen er vertrauen konnte, die ihm vertrauten, menschliche Kollegen auf dem Bau, politische Funktionäre, die auf die Anliegen der Roma einzugehen bereit waren? Hier fand er seine neuen Anknüpfungspunkte, als ein Menschensucher, der schließlich auch in seiner unmittelbaren Nähe fündig wurde, in seinem Buch über die Oberwarter Roma und ihre Siedlungen, „Atsinganos“, in dem es nuram Rande um die Konstruktion der Häuser und ihre Lage geht (auch dies wichtig, weil sich ja daran das Unrecht der Ausgrenzung zeigt). Mehr noch geht es um die Alexander Emanuely jNo pasaran! Worte fiir Gerhard Scheit Gehalten am 6. Oktober 2016 in ESRA, Wien Ohne Musik zu hören, gibt es keine klaren Gedanken. Jedenfalls ist das bei mir so. Um für Gerhard Scheit eine Laudatio zu schreiben, brauchte ich es „Heftig, aber markig“, brauchte ich jenen ersten Satz, das Allegro energico von Gustav Mahler aus seiner Sechsten Symphonie, vor ca. 112 Jahren komponiert. Damals war in Wien noch die Moderne zu Hause. Einige Komponisten der Stadt, die bedeutendsten zumindest, wie Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Alban Berg, Ernst Kienck fingen die Töne, die Unruhe, das Stampfen des beginnenden 20. Jahrhunderts ein und übersetzten sie, heftig, aber markig, ganz im Zeichen auch von Karl Kraus’ Sprach-, Stimm- und Beschreibungsdonner. Es sind Albtraum, Leid, Entmenschlichung zu hören in diesen Tönen, gepaart mit Wut und Wehmut, aber auch mit Hoffnung, ganz leise, mit Schönheit, ganz versteckt in zarten Passagen, gerade bei Mahler, Passagen, die zwischendurch immer lauter werden, 24 ZWISCHENWELT Menschen, die in diesen Siedlungen gelebt haben und leben. Auch wenn Horvath oft Verwahrlosung und Alkoholismus anmerken muß, würdigt er sie in ihrem Glück und Unglück. Das Motto des Buches könnte lauten: „Aber wir haben doch hier gelebt!“ Gemeinsam ist Gerhard Scheit und Stefan Horvath auch der Bruch, der Bruch mit dem Schweigen und der Verantwortungslosigkeit. Bei Horvath löste das Attentat vom Februar 1995 die entscheidende Wende aus. Der Briefbomber Franz Fuchs, der jahrelang Österreich terrorisierte, hatte mit einer Sprengfalle vier junge Roma ermordet, darunter einen Sohn Stefan Horvaths. Damals begann Horvath zu schreiben, was wiederum einen neuen langen Weg bedeutete. Auch fiir Gerhard Scheit wurde das Attentat von Oberwart zum Motiv, sich mit dem Terror zu beschäftigen, mit dem Terror, der viele Jahre schon gegen die Bevölkerung Israels ausgeübt wurde, und mit der Fahrlässigkeit der westlichen Demokratien. Das Geschehen, das wir vordem bequem aus der Ferne betrachten konnten, ist uns mittlerweile näher gerückt. So traumatisierend sich die Wende in Stefan Horvaths Leben vollzog, so war sie doch einfacher zu bewältigen, allerdings abhängig von den Fähigkeiten, die er besaß und andere Roma vielleicht nicht besaßen: Phantasie, Sprachgefühl, Ausdauer. Er wandte sich gewissermaßen sich selbst zu. Für Gerhard Scheit bedeutete der Bruch aber auch Abwendung von sich selbst, von der eigenen Familiengeschichte, Erziehung und Bildung, Verlassen des vorgezeichneten Weges eines musikalisch Hochbegabten. Wir erleben heute häufig, daß sich der eine oder andere, der nach einem höheren Amte strebt, von der „Vergangenheit“ distanziert. Er möchte mit dem nichts zu tun haben. Oder man stößt sich von ihr einfach ab. Es gilt aber, mit der Barbarei zu brechen, und dazu gehört auch, die Verantwortung für das Geschehene und die notwendigen Folgerungen daraus aufsich zu laden. Stefan Horvath und Gerhard Scheit haben lange Wege auf sich genommen. Sie haben mit der Barbarei gebrochen. Ich gratuliere. als ob das Schöne doch stärker und weiser sein könnte, Andante moderato, klingend, ruhig, lyrisch, Vertrauen erweckend. Die Wiener Schule, nennen wir sie Orpheus, sang nicht nur, um Euridike vor dem Tod zu retten, sondern auch, um die Wiener Mitmenschen der Unterwelt zu entreißen. Doch die Unterwelt aus Hass, Antisemitismus, Ressentiment, bis hin zu Mord und Totschlag, mit ihren Betreibern und Hütern namens Lueger, Schönerer, dann Hitler und Co., schien vielen der Mitmenschen ganz gut zu gefallen. Statt sich also ins Leben zurückzusingen an der Seite des Orpheus und, wie bei Gluck, mit Hilfe Amors, zogen es viele vor, das Leben in die Hölle zu zerren und Amor, Orpheus und Euridike zu erniedrigen und dann zu erschlagen. Gustav Mahler starb zwar 1911, ihm blieben Weltkriege und die Shoah erspart, doch von dieser Unterwelt hatte er schon das Wesentliche mit- und abbekommen. Gemeinsam mit dem Politologen Wilhelm Svoboda veröffentlichte Gerhard Scheit 2002 ein aufschlussreiches Buch zur