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HeimbewohnerlInnen, die meisten waren VietnamesInnen, ermordet wurde. Am 29. Mai 1993 folgte in Solingen ein Brandanschlag auf ein Einfamilienhaus, in dem zwei türkische Familien wohnten. Bei diesem kamen fünf Menschen ums Leben, drei von ihnen waren Kinder. Am 3. Dezember 1993 detonierte im Pfarrhaus von Hartberg eine Briefbombe. Es war der erste jener Terrorakte, die von der neonazistischen „Bajuwarischen Befreiungsarmee“ ausgingen. Es folgten neun weitere Briefbomben, darunter auch eine an Terezija Stoisits adressierte. Bis 1996 sollte es noch vier weitere Briefbomben-Serien geben sowie drei Rohrbomben-Anschläge. Die erste Rohrbombe explodierte in Klagenfurt, die zweite in Oberwart, die dritte in Stinatz. Bei der Explosion in Oberwart in der Nacht vom 4. auf den 5. Februar 1995 wurden vier junge Männer ermordet. Einer der Toten war Stefan Horvaths Sohn Peter Särközi. Am 5. Februar konnte man im ORF-Teletext und in der APA-Meldung lesen, dass vier Roma „beim Versuch, eine romafeindliche Tafel zu sprengen... tödlich verunglückt“ seien. Und das war noch die harmloseste Tater-Opfer-Umkehr, die in den nachsten Wochen, Jahren folgte. Weiters wurde von einer Fehde unter den Roma gesprochen, schließlich davon, zumindest in der FPÖ-nahen Presse, aber auch in so mancher Tageszeitung, die „Linken“ hätten all diese Attentate verübt, um der FPÖ Schaden zuzufügen. 2011 noch behauptete Norbert Hofer in der ZIB2, dass es eine „Tatsache“ sei, dass der Attentäter Franz Fuchs ein „Linker“ gewesen sei. Die „Linken“ hatten 1995 jedoch noch einen anderen Namen, nämlich Wolfgang Purtscheller — meines Erachtens einer der bedeutendsten österreichischen Autoren der 1990er Jahre, haben wir ihm doch einen tiefen Einblick in die österreichische Alt- und Neonazi-Szene zu verdanken. Man sprach von einer Lederjacke am Tatort in Oberwart, die die seine gewesen sein soll, riss Aussagen des Autors, der selbst gerade einem Mordanschlag entgangen war, aus dem Zusammenhang und konstruierte in der Parteizentrale der FPÖ und in diversen Burschenschaften eine linksextreme Verschwörung gegen Jörg Haider und Co. Wolfgang Purtscheller verstarb heuer — ofliziell in Folge eines Sturzes in der Silversternacht — am 6. Jänner, weshalb ich heute auch an ihn erinnern möchte. FPÖ und ihre Freunde im Boulevard hatten sein Leben viele Jahre lang zur Hölle gemacht, ihn mit haarsträubenden Klagen überzogen. Wolfgang war somit nicht nur ein Paradebeispiel für großartigen und mutigen investigativen Journalismus, sondern auch dafür, wie leicht und kafkaesk im postnazistischen Österreich die Existenz eines Menschen zerstört, wie Antifaschismus kriminalisiert werden kann. In den 1990er-Jahren änderte sich auch Gerhard Scheits Fokus, zu schr präsent im Hier und Jetzt war die Unterwelt, die schon Gustav Mahler bedroht und Jura Soyfer und Millionen andere ermordet hatte. Die wichtigste Antriebsfeder der Mörder von 1905 wie jener von 1995 war der Antisemitismus. Und auch dieser hat seine traditionellen Bühnen. Mit der „Dramaturgie des Antisemitismus“, von den christlichen Passionsspielen über die Propaganda der Nazis hin zu Syberberg und Fassbinder, setzt sich Gerhard Scheit in der umfangreichen Studie „Verborgener Staat, lebendiges Geld“ (1999) auseinander. Von daan beginnt er 26 _ ZWISCHENWELT sich intensiver der Kritik der deutschen Ideologie, insbesondere Carl Schmitts, Ernst Jüngers und Martin Heideggers zu widmen. Gegen deren Apologie im Poststrukturalismus polemisierend, geht er dabei von der Marzschen Kritik der politischen Ökonomie, der Kritischen Theorie und der Psychoanalyse aus. Erste Resultate hiervon sind seine Bücher „Mülltrennung“ (1998) und „Die Meister der Krise“ (2001). Doch nicht nur in Wien hatte die deutsche Ideologie längst ihre Ableger gefunden, sondern auch z.B. in Bagdad, Teheran, Gaza, und aktuell im Gebiet des IS. 9/11, der Terror gegen Juden und Jüdinnen in Israel und der ganzen Welt sowie die Suche nach den Urspriingen dieses Terrors lassen Gerhard Scheit seit einigen Jahren in seinen Analysen und Beschreibungen weit über Wien, Europa und den Westen hinaus blicken. In „Suicide Attack“ (2004) und „Jargon der Demokratie“ (2007) setzte er sich mit dem Selbstmordterror in Israel, dem Islamofaschismus und der Fahrlässigkeit der westlichen Demokratien in Bezug auf den Antisemitismus in Nahost auseinander. In „Der Wahn vom Weltsouverän“ (2009) schreibt er über das Ressentiment der internationalen Staatengemeinschaft gegenüber Israel. Auch hier Täter-Opfer-Umkehr, denn nicht die Mörder, die AttentäterInnen stehen in Österreich und international im Zentrum der Kritik, sondern eher die Opfer des Terrors. In diesen aktuellen ideologiekritischen Studien knüpft er zugleich an die lange Zeit vergessenen kritischen Begriffe des „Rackets“ von Max Horkheimer und des „Unstaats“ von Franz Neumann („Behemoth“) an. Von diese Begriffen ausgehend, unternimmt das Buch „Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno“ (2011) schließlich auch den Versuch einer Neuinterpretation von Adornos Negativer Dialektik. Doch ist Gerhard Scheit zum Glück nicht alleine mit seiner Kritik, so war er 2001 Mitbegründer von „cafe critique“ und gibt seit 2012 zusammen mit Manfred Dahlmann die Zeitschrift „sans phrase“ heraus. Und weil man auch an seinen Vorbildern arbeiten muss, man will jaden Glauben an die Menschheit nicht ganz verlieren, gab Gerhard Scheit parallel zu seiner Arbeit zum neuen Antisemitismus und Antizionismus von 2002 bis 2007 drei Bände der Werkausgabe Jean Ame£rys heraus. Vor einigen Wochen erschien sein Buch „Kritik des politischen Engagements“, in dem er so etwas wie eine Synthese seiner Arbeiten sieht. Darin spricht er von der Notwendigkeit, gegen die ‚Barbarei‘, letztlich die drohende Wiederholung von Auschwitz, anzuschreiben und zugleich das eigene Engagement zu reflektieren. Und auch wenn dieses 700-seitige Buch wie ein Resümee klingt, so erwarte ich mir noch einiges von Gerhard Scheit, gibt es doch sonst nur wenige AutorInnen, darunter seine Lebensgefährtin Renate Göllner, die derart langen Atem beweisen und sich so konsequent an die Tabus unserer Gesellschaft wagen. Ich möchte mich bei Dir, Gerhard, für Deine Arbeit bedanken und, angelehnt an Wolfgang Purtscheller, der die VerteidigerInnen von Madrid und Barcelona von 1936 beim Wort nehmend seine Texte abschloss, sagen, bei allem, was noch zu tun gilt: ;No pasaran!