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Chalid „Weißt du, wenn ich so groß bin wie du oder mein Papa“, brachte Chalid vertrauend vor, „dann werde ich sicher Soldat sein. Nur darf ich im Kindergarten darüber nicht reden.“ „Ich werde dich nicht verraten“, versicherte ich und hörte mir die Geschichte des Buben an, dessen Blick sich immer mit Angst füllt, wenn ihn der bärtige Vater abholt. „Chechnyal“, sagt er zu mir, „Chechnya. Weißt du, das heißt so. Ich werde Soldat. Ich kaufe eine Waffe und werde töten, die Bösen töten. Chechnya, weißt du, denn das alles nennt man Chechnya.“ Ich staune entsetzt: „Die angeblichen Bösen sind Menschen wie du und können dich töten.“ „Nein, nein, verstehst du es nicht? Die Bösen sind DIE! ICH werde SIE töten. Das heißt doch Chechnya.“ Verunsichert lacht er und seine seit Wochen unbehandelte aufgesprungene Unterlippe beginnt zu bluten. „Bin ich ein guter Soldat“, fragt er hoffnungsvoll, „oder?“ Chechnya — Tschetschenien Qia Lie Qia Lie, chinesisches Mädchen, Betonung auf dem zweiten Wort. Abgetragene Kleidchen und zerfahrener Blick. Sie sitzt am Tisch und malt nicht altersgemäße Bilder, und wenn sie nicht malt, dann starrt sie vor sich hin und weint. Qia Lie, kurz geschnittene Haare, lange Nägel und fast abgeriebener Lack, der den Schmutz unter den Nägeln nicht verbirgt. Sie hat eine jüngere Schwester, die immer lacht, und eine schickimicki gestylte Mutter, welche Qia Lie lieblos in den Kindergarten zerrt. Wenn die Kleine in der Schlafstunde, anstatt zu schlafen, bitterlich schluchzt, dann seufzen die Tanten und rufen: „Qia Lie, geh aufs Klo, mach Lulu!“ Sie gehorcht, steht auf, und sich die Arme vor den Unterleib haltend, schleppt sie ihr Leid verzagt hinaus. Qia Lie, auf sämtliche Fragen erwidert sie, es tue ihr gar nichts weh. Es habe sie nur die kleine Scha Schi zuhause geschlagen... Allerdings, wenn sie nicht aufhört zu weinen, rufen die Tanten die Mutter an, die sich weigert zu kommen. Und wenn sie doch wie eine Furie hereinfegt, schleppt sie die Kleine verärgert nach Hause, ohne zu merken, dass sie nicht mal Schuhe anhat. Man redet halt manchmal über das Jugendamt. Aber das soll man anrufen, angeblich nur wenn die Kinder Spuren körperlicher Misshandlungen aufweisen. Dezember 2016 31