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Corinna Antelmann Viele Glieder — ein Leib Die erste Geschichte über Flucht, die ich hörte, war diese: Meine Mutter schaukelt im Januar 1945 bei minus 25 Grad als fünfjähriges Mädchen auf dem Pferdewagen, auf der Flucht vor der russischen Armee, die sie von dem Hof ihrer Großeltern in Minken, Schlesien, über Ohlau bis kurz vor die tschechische Grenze nach Waldenburg führen sollte. Sie ist in warme Decken gehüllt, und ihre Großtante radelt voran zum nächsten Bauern, um Quartier zu machen und eine Milch für das Kind zu organisieren, damit es etwas zu trinken habe, wenn sie den Hof erreichen werden. Ja, so gütig sei sie gewesen, die Großtante, immer habe sie nur an andere gedacht, nicht aber an sich selbst. Ich liebte diese Großtante, ihr großes Herz hatte sie sich bewahrt, aber je älter ich wurde, desto mehr Fragen tauchten auf, nämlich: Wie hatte sie sich eben dieses große Herz bewahren können, nach allem, was sie erlebt haben musste? Darüber las ich in Augenzeugenberichten, die erst Jahrzehnte später verfasst worden waren, Jahrzehnte, in denen der Schmerz sich soweit gesetzt hatte, dass die einst Geflohenen ihre Sprache wiederfanden - als Form der Selbstermachtigung —, eine Sprache, die es erst geben konnte, weil es manchen von ihnen unmöglich geworden war, die Erfahrungen weiterhin zurückzudrängen. Sie unter Verschluss zu halten aber mochte ihnen zuvor notwendiger erschienen sein als das Sprechen, um nicht einzuknicken, in anderen Worten: um überleben zu können. Weiterzuleben. „Gab es keine Toten während der zwei Fluchtetappen?“, fragte ich meine Mutter, auch das war viel später, als ich mich bereits erwachsen wähnte und begonnen hatte, mich mit diesem innerfamiliären Flucht-Thema auseinanderzusetzen, das fiir mich als Kind wie ein Abenteuer geklungen hatte, waren nicht zudem die Alpträume gewesen: von sterbenden Tieren und Feuern und Krieg. Ich wusste nicht, warum sie mich verfolgten, diese Träume, warum sie mich heimsuchten, die ich in Sicherheit aufgewachsen bin und mit Geschichten über die Flucht, die allein die Güte der Großtante beschrieben und die glorreiche Rettung der Lieblingspuppe meiner Mutter, der Puppe mit den langen geflochtenen Zöpfen. Nur den Puppenwagen hatte sie eingebüßt, er war zurückgeblieben im Hof und wurde bei der Rückkehr ins Dorf, nun unter polnischer Besatzung, umgestürzt aufgefunden. Später nahm die Geschichte der Flucht ein Happy-end, an das ich allerdings nie recht habe glauben können. Was lag vor dem Happy-end, fragte ich mich und begriff außerdem, dass das Happy-end eben nicht das Ende war, nachdem ich allmählich die Zusammenhänge zu erkennen begann, warum die Handlungen innerhalb der Familie von Angst dominiert wurden und ihre Beziehungen von gestörten Beziehungsfeldern und von dem Wunsch nach absoluter Anpassung. Anpassung bis zur Selbstverleugnung. Ich stellte weitere Fragen, zum Beispiel, ob es denn keine Erschossenen gegeben habe, keine Erfrorenen, auf der Flucht von Minken nach Waldenburg, oder später, 1946, keine Toten beim Abtransport in den Viehwägen, mit denen die letzten Deutschen, zu vierzig Menschen pro Waggon, Schlesien verließen. „Du musst doch etwas geschen haben“, sagte ich zu meiner Mutter und fragte auch meinen Vater, der ebenfalls als Fünfjähriger aus Niederschlesien fliehen musste. Dass die beiden einander kennenlernten und heirateten, war Zufall, herbeigeführt vielleicht durch ein sprachloses Erkennen der eigenen Problematik im jeweils anderen. Ich fragte meine Großmutter und ihre beiden Schwestern, alle drei von dicken, schützenden Schichten Körper umgeben: „Wovor schützt ihr euch?“ Zunehmend begriff ich, dass es zwar gut ist, sich auseinanderzusetzen mit dieser Flucht, es mir jedoch nicht zustand, den einst Vertriebenen ihre Verdrängung zu nehmen, die, wie die Fülle des Körpers, immer auch schützende Funktion haben kann und darf und manchmal muss, bis der Wunsch nach Schutz dem möglichen Wunsch weicht, den Schmerz zuzulassen: dem Wunsch, zur Sprache bereit zu sein, wann und wie und ob überhaupt ist bei allen verschieden. So verschieden wie das Erleben selbst. Ausgehend von meiner Familie, spreche ich von der Flucht, die einen großen Teil der deutschen Bevölkerung verpflanzt hat, unfreiwillig, und damit zu Opfern gemacht, die sich jedoch, anders als die Opfer Hitler-Deutschlands, nicht gegen die Tater aussprechen konnten, die ihnen ihr Leid zugefügt hatten. Nach wie vor lebten sie im Täter-Deutschland und wurden diesem Täter-Deutschland zugerechnet und hatten Opfersein verwirkt durch ihre mutmaßliche Zugehörigkeit zu den Tätern. Es gibt verschiedene Gründe, fliehen zu müssen, und wer aus dem eigenen Land flieht, weil er oder sie verfolgt wird, kann von außen einen anderen Blick auf das Land werfen, als diejenigen, die zwar Land verlieren, jedoch innerhalb der (neu entstandenen) Grenzen bleiben. Dennoch gibt es in der Fluchterfahrung selbst etwas Allgemeines, den Bruch in der Biografie, die Erfahrung der Entwurzelung, den Verlust des Gewohnten, die Ausgrenzung der Zugezogenen, die sich allerorts dafür zu eignen scheinen, etwaige Ressentiments auf sie abzuladen. Eine Flucht zieht Folgen nach sich, die weit hineinreichen in die nächsten Generationen. Sich in den Kokon einer körperlichen Schutzhülle begeben zu wollen, wie es meine Großtanten, wenngleich nicht vorsätzlich, so sicher nicht zufällig, getan hatten, konnte ich verstehen, wie auch das Schweigen meiner Großeltern und die Antwort meiner Mutter: „Tote? — Nicht, dass ich wüsste, ich habe keine unguten Erinnerungen.“ Ich kann ihnen ihren Unwillen, erinnert zu werden, zugestehen und weiß zugleich: Die Erlebnisse ihrer Flucht sind schlimmer als alles, was ich, die ich nicht einmal geboren war, mir vorzustellen vermag. Und dennoch könnte es die Aufgabe der Nachgeborenen sein, aus welcher Perspektive auch immer, den Knoten der Opfer-Täter-Verstrickungen zu lösen, der die Gegenwart noch immer mit der Vergangenheit verknäult und zu diffusen Leidenserfahrungen führt. Vielleicht prädestiniert die Position der Rückblickenden geradewegs dazu, über das Vergangene, das fortwirkt, zu berichten, zum Beispiel darüber, inwieweit sich das Verständnis des Eigenwertes eines Menschen verändert durch Flucht und Vertreibung, sein innerstes Verständnis von dem, was ihm zusteht an Wertschätzung. Der Abstand zu der traumatischen Erfahrung ermöglicht es den nachfolgenden Generationen einen größeren Zusammenhang auszumachen als die Beteiligten selbst es könnten, die in ihrer Opferrolle außerhalb Dezember 2016 35