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des engen Familienkreises unerkannt bleiben mussten, ermöglicht es ihnen, die Kränkung zu überwinden und sich einzusetzen für humanitäre Ziele, die den Bruch lindern helfen. Ursache schafft Wirkung. Wie aber steht es um den Wert der Menschen im Allgemeinen, zum Beispiel den Wert eines Menschen, der sich zur Flucht entscheidet, weil sein Wert bereits VOR der Flucht missachtet wird: Frauen, deren Rechte mit Füßen getreten werden, Männer, denen ihre Lebensgrundlage entzogen wird, Kinder, die zum Arbeiten geschickt werden oder ohne Umwege sogleich in den Krieg. Wir, die wir heute in der westlichen Welt leben, in Frieden, in einem Kokon, einer Wohlstandsblase, die den Rest der Welt ausblendet, werden gegenwärtig daran erinnert, dass wir nicht die einzigen Menschen sind, die auf dieser Erde leben. Wir bilden einen einzigen Leib, so heißt es im ersten Briefan die Korinther: Auch der Leib besteht nicht nur aus einem Glied, sondern aus vielen Gliedern / Wenn der Fuß sagt: Ich bin keine Hand, ich gehöre nicht zum Leibl, so gehört er doch zum Leib. / Und wenn das Ohr sagt: Ich bin kein Auge, ich gehöre nicht zum Leibl, so gehört es doch zum Leib. / Wenn der ganze Leib nur Auge wäre, wo bliebe dann das Gehör? Wenn er nur Gehör wäre, wo bliebe dann der Geruchssinn? [...] Das Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich bin nicht auf dich angewiesen. Der Kopf kann nicht zu den Füßen sagen: Ich brauche euch nicht. / Im Gegenteil, gerade die schwächer scheinenden Glieder des Leibes sind unentbehrlich. [...] Wenn darum ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit; wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle anderen mit ihm. (1. Korinther, 12.14-26) Die Welt, die im Zuge der Globalisierung, auch äußerlich, immer mehr einem Leib gleicht, führt uns plastischer denn je vor Augen, was es bedeutet, ein Leib zu sein: Wenn mein Zeh schmerzt, hacke ich ihn dann ab, damit der Rest des Körpers ein gutes Leben führen kann? Und selbst, wenn es kurzfristig möglich scheint, einzelne Gliedmaßen abzutrennen: Was geschieht mit dem abgehackten Zeh? Fällt er von der Erde hinunter, ins Universum, ins Nichts, löst er sich auf und mir fehlt bloß die kleine Zehe, aber sonst ist alles bestens? Und plötzlich ist es nicht mehr allein der Zeh, der erkrankt: Es folgen Finger, Hände, Unterarme und schließlich der halbe Körper. Wem gestehen wir einen Wert zu und wem nicht? Wie gern würde ich glauben, dass alle Menschen, die sich auf die Flucht begeben, stets eine Milch bekommen werden auf dem nächsten Hof, den ihr Weg kreuzt, und sich schließlich in einem Happy-end wiederfinden, aber mein Wissen funktioniert nicht wie die Erinnerung eines Kindes von fünf Jahren, das auch später noch an diesem Glauben festhält, obwohl es vor Ort gewesen ist, und sich bloß wundert, warum es als nunmehr erwachsene Frau von tausend-und-einer Angst heimgesucht wird und stets das Schlimmste fürchtet und nie das Beste und außer an die Milch auch an die vermeintliche Tatsache glaubt, es selbst sei wertlos, ja, es stünde ihm nicht zu, einfach aus sich selbst heraus zu leuchten, ohne etwas dafür TUN zu müssen. Und dies alles, obwohl dieses Mädchen, das zufällig meine Mutter ist, zumindest das Glück hatte, eine liebende Großtante an seiner Seite zu wissen, nebst liebender Mutter und warmen Decken und auf den Bauch gebundenen Sparbüchern, in einem Pferdewagen, das also mehr hatte als viele andere, wenn das mit dem Pferdewagen überhaupt stimmt. Ich hege den Verdacht, dass das Pferd irgendwann erfroren 36 ZWISCHENWELT umgefallen ist, wenn meine Träume mich nicht täuschen, auch jetzt noch: Träume von Flucht, ohne sie selbst erlebt zu haben. Im unbewussten Raum gespeichert. Und was sagt das Bewusstsein zu alledem? „Gott-sei-Dank gibt es Milch für alle“, sagt es. Heute aber scheint sich die gesamte westliche Welt, ohne Weiteres und ohne die Not eines getriebenen, fünfährigen Mädchens, ähnlicher Verdrängungs-Mechanismen, die das Kind entwickeln musste, zu bedienen, denn um sich gut zu fühlen mit dem Kauf des nächsten Computers, des nächsten Handys, ist es zwar nicht notwendig, aber doch offenbar hilfreich, auf Verdrängung zurückgreifen zu können, und schon kaufen wir das nächste Handy, weil es drei Funkionen mehr hat als das alte, die allerdings ebenso wenig gebraucht werden wie die ihrer Vorgänger-Versionen. Das Bewusstsein ist geübt darin, Wahrheiten zurückzudrängen, und wir freuen uns über die Angebote und bemerken kaum, dass wir uns längst selbst auf der Flucht befinden: auf der Flucht vor den relevanten Informationen, die die Milchmädchen-Rechnung aufzuschlüsseln helfen würden. Die sogenannte Informationsgesellschaft pfeift auf gewisse Informationen und informiert sich lieber darüber, wo es die billigsten Klamotten gibt, ohne sich die Frage zu stellen: Wie kann eine Bluse 9,90 Euro kosten, wie ist das möglich, wie wirkt das eine auf das andere, auf die anderen? Es gibt Ursachen von Flucht und Ursachen von Krieg, alles hängt zusammen, die Welt als solche, die Menschen, die Ökonomie, das Licht und der Schatten, aber statt Bewusstwerdung voranzutreiben, werden wir getrieben von einem ökonomischen Denken, das bereits fester Bestandteil des Leibes geworden ist, weil wir zugelassen haben, wie es ihn durchdringt, bis ins Mark hinein, ins tiefste Denken. Und so betreiben wir in der Gegenwart unsere persönliche Flucht weiter, um den Antworten darauf auszuweichen, welchen Weg der Computer zurückgelegt haben muss, bis er hier auf meinem Schreibtisch steht, um es mir zu ermöglichen, auf ihm über Flucht zu schreiben. Und wo wird er landen, wenn er seine Funktionen einstellt oder ich seiner erneuerten Version hinterherjagen möchte? Was haben die Lebensumstände eines Bauern in Ghana damit zu tun? Was das verseuchte Land, das diesen Bauern möglicherweise zur Flucht veranlasst, weil es nicht länger bewirtschaftet werden kann, er also verhungern müsste, wenn er bleibt, denn Bildung hat er auch keine? Und wenn er verhungert, so muss ich doch wenigstens meinen alten Computer niemals mehr wiedersehen, sondern kaufe mir den neuen, gefertigt von den Händen migrantischer Arbeiterinnen, die ebenfalls flichen würden, wenn es ihnen möglich wäre, den mafiösen Strukturen zu entkommen, innerhalb derer sie ihr Geld verdienen müssen. Sieben Computer werden in der Sekunde produziert, vier Menschen geboren, von denen einige dann auf den Müllhalden herumspazieren, jenen Computer-Müllhalden, die das eine oder andere (afrikanische) Kinderleben zu verantworten haben. Zur Zeit gibt es für uns, die wir hier im Wohlstand leben, keinen Grund, fort zu müssen, ja, unsere sichere Existenz zu verlassen wäre beinahe dumm, denn wir haben das goldene Los gezogen, auch, wenn wir wissen: Das kann uns jederzeit abhanden kommen. Als mein Ur-Großvater seinen Hof bestellte und sich abends zur Ruhe begab, hätte er nicht im Traum daran gedacht, den Hof eines Tages zu verlassen, die Träume kamen später, und niemals wäre er freiwillig gegangen, nein, er ist nach der Befreiung Deutschlands sofort zurückgekehrt an diesen Ort, ohne zu wissen, was ihn dort erwartete, tote Kühe und verendete Hühner, aber