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er wollte festhalten, was er als Heimat bezeichnet hätte, und war bereit, unter der Besatzung einen Neuanfang zu wagen, um dann nicht einmal ein Jahr später ein Gepäck von fünfzehn Pfund zu schnappen und, ohne Pferd, ohne Decke, ohne Milch, ein weiteres Mal die Flucht anzutreten. Dieses Mal endgültig. Wir aber müssen derzeit glücklicherweise nicht fliehen, weder örtlich noch gedanklich, und dennoch fliehen wir beinahe täglich, denn es gibt auch Variationen der Flucht abseits von Krieg und Verfolgung. Immerzu befinden sich alle auf der Flucht: von dem einen Ort zum anderen, von der einen Person zur nächsten, vor den Abgründen in sich selbst. Und wenn die Angst dich einholt, dann gibt es noch die Flucht in die hauseigene Idylle, vor der du am liebsten einen Zaun ziehst, damit die hauseigene Idylle hauseigene Idylle bleibt, und nicht zuletzt vor der Erkenntnis, dass wir miteinander verflochten sind, wir Menschen als Menschen, die wir in einer Welt leben, die wir miteinander teilen. Wir fliehen vor den Flüchtlingen, weil sie uns mit Wahrheiten konfrontieren, vor denen wir gern flichen, weil sie uns die Angst vor Augen führen, wie wir — heißt: das Land, in dem die Zuflucht gesucht wurde — den Zustrom verkraften werden, was nichts anderes heißt als: die Angst davor, dass es nicht immer so weitergehen kann mit der Flucht vor den Fragen, was anderswo geschicht, damit unser Wohlstand gesichert ist und wovon wir profitieren, jeden Tag, jede Minute, jede einzelne von den Sekunden, in der neue sieben Computer produziert werden. Sie konfrontieren uns mit der Mit-Verantwortung, Schuld sage ich bewusst nicht, denn natürlich gibt es soziale und rechtliche Errungenschaften, die wir uns mühsam erkämpft haben, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Erfahrungen und Ungerechtigkeiten, die Europa während vieler, langer und brutaler Kriege durchlitten haben mag. Vielleicht erwächst daraus das Bewusstsein, was Werte wert sein sollten, was gut ist und was schlecht. Das Gute und Schlechte jedoch unterliegt immer auch der Perspektive, so wie die Sicht, wer Täter ist, wer Opfer, auch immer eine Sache der Perspektive ist. Unsere Werte sollten für uns selbst über das eigene Wohlbefinden hinaus gelten und nicht nur so lange, wie du an der Wahrheit vorbeischaust, denn mit Verantwortung ist gemeint: sich den Konsequenzen des Tuns bewusst zu sein, bewusst zu handeln, was ein anderes Wort ist für Gewissen. Die persönlichen und nur partiell erzählten Geschichten von Vertreibung und Völkerverschiebungen infolge des Zweiten Weltkrieges lehren uns, dass die Flucht eben nicht mit der gelungenen Flucht endet. Immer gibt es nur ein vorläufiges Happy-end, die Folgen aber sind langfristig, denn die eine Flucht vor dem Krieg, vor der Armut, vor der sexuellen Gewalt, vor: was-auch-immer, zieht unweigerlich die nächste nach sich, und diese Flucht schließt zum Beispiel die Flucht vor der Erinnerung mit ein, was immer auch Abspaltung bedeutet, sprich: dich anzupassen, bis du selbst vergisst, wer du bist. Das Vergessen ist verlockend nach allem, was Flüchtlinge auf der Flucht durchmachen, aber der Preis der Selbstverleugung hoch. Selbstvergessenheit kann bedeuten, in sich selbst versunken zu sein oder auch: blind zu werden für das, was dir zusteht, allein deshalb, weil es allen Menschen gleichermaßen zustehen sollte und das meint: Gleichstellung, persönliche Freiheit und Sicherheit, Unversehrtheit und nicht zuletzt Wertschätzung, ohne dein Licht unter den Scheffel stellen zu müssen. „Stell deine Erfolge nicht aus“, sagte meine Mutter und meine Großtante pflichtete ihr bei: „Das wirkt eingebildet und fällt auf dich zurück.“ Seither fliehe ich gekonnt den Erfolg, denn das scheint allemal besser, als wenn jemand oder etwas auf mich drauf fällt. Ich fliehe vor dem Rampenlicht, so wie ich zuvor vor der Erkenntnis geflohen bin, was meine Familie erlebt und mir ungewollt weitergegeben hat: die Tendenz zur Flucht. Auch ich habe mein Land verlassen, obwohl ich meine (von den Großeltern gesuchte neue) Heimat nicht hätte verlassen müssen, in die ich hinein geboren wurde, die Wahlheimat meiner Eltern, aber wer spricht von Wahl angesichts der Wege, die sie zurücklegen mussten, um dort zu landen und zu bleiben? Und zu hoffen, heimischer als die Heimischen zu werden, sprich: nicht aufzufallen. Ich bin weitergezogen in ein anderes Land, Österreich, ohne offensichtlichen Grund und wiederhole unwillkürlich die Ankunft, den Wunsch, willkommen geheißen zu werden, und breche in Tränen aus, wenn mich jemand aus dem alleinigen Grund ablehnt, eine Deutsche zu sein und keine Hiesige. Mir wurde gesagt, es benötige zwei Generationen, um dazuzugehören. „Achso“, sagte ich und ließ mir den Schrecken nicht anmerken, denn schließlich bin ich freiwillig hier, niemand hat mich gezwungen, niemand gebeten hierherzukommen und nutzen tue ich auch niemandem, denn so las ich kürzlich im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Flüchlingsströmen: „Nutzen sie uns?“ Was nutzen uns die Flüchtlinge, was nutzten sie damals? Ist das eine ernstgemeinte Frage und wenn ja, wie könnte sie gemeint sein? Ein Nutzen, der sich in Zahlen ausdrücken lässt, in ökonomischen Erwägungen oder demographischen? Was nutzten meine Großeltern und meine Großtanten dem Weserbergland, in das sie sich niederließen, erst als Gast eines Tischlers, später dann in einer eigenen kleinen Wohnung? Sie haben versucht, bestens angepasst zu sein, außergewöhnlich leistungsfähig, auch dies, ohne aufzufallen. Unbemerkt höchstleistend scheint erwiesenermaßen ein Merkmal von Mitgliedern aus Flüchtlingsfamilien zu sein, bis in die vierte Generation hinein, heißt: Sie sind möglicherweise tatsächlich profitabel und bringen das große Geld, wenn nicht sich selbst, dann anderen. Dies ist kein Vorschlag. Was steht Flüchtlingen zu, ohne dass sie Nutzen brächten? Der Anspruch, dem eigenen Wert entsprechend gehört und geschen zu werden, den Scheffel zu lupfen, sprich: Licht. Und dieses Licht steht auch jenen Menschen zu, die bleiben statt zu flichen, es steht jedem Mann zu und jeder Frau und jedem Kind und jedem Hermaphroditen. Die Flucht kennt kein Ende, nicht hier, wo ich an einem Computer arbeite, der Mitverantwortung daran trägt, dass anderswo auf der Welt ein Kind über giftige Hügel schleicht, und nicht in mir, solange ich die Flucht nicht thematisiere: die Flucht meiner Großeltern, die meine, die gegenwärtige, die unserer eigenen Geschichte, die der Deutschen, des jeweils eigenen Landes. Wie kannst du dich niederlassen, wenn das Gefühl des Wohlbehagens zwischen dicken Decken und dicken Tanten herausgerissen wird von der Erkenntnis, dass die altruistische Großtante jeden Tag auf den Heuboden versteckt werden musste, weil der Krieg kein Schamgefühl kennt. Und auch der Frieden tut sich schwer mit diesem Schamgefühl, das ausbleibt, selbst jetzt, wo die Konfrontation sich zuspitzt, bleibt es aus, obgleich wir alle wissen, dass Dezember 2016 3/7