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bewusst (und er geizte nicht mit lakonischen Eingeständnissen und realistisch-zynischen Apergus) — er bekämpfte jedoch diese Dinge mit Beispielen für das gelungene Gegenteil, anstatt sich abzuwenden, keine Niederlage zu riskieren und dem Fatalismus oder Opportunismus zu verfallen. Das Werk Brodskys als einen wichtigen Beitrag zur Literatur des 20. Jahrhunderts pro forma anzuerkennen ist die eine Sache, seinen Kenntnisreichtum und seinen Geist wirklich kennenzulernen, eine andere. Ich kann hier niemandem eine Kirche in den Glauben tragen, möchte aber dennoch versuchen, ein Streiflicht auf die Aspekte dieses Werkes zu werfen, das zu lesen ich nur jedem empfehlen kann. Für mich gehört es zu einer der großen Erfahrungen von engagierter, intelligenter, bereichernder Literatur. Der Essayist „Die Menschen sind füreinander geboren, also belehre oder ertrage sie.“ (Marc Aurel; eines von Brodskys Lieblingszitaten.) Viel ist man heute daran interessiert, Dichtung zu rechtfertigen; meist mehr mit intellektuellen Argumenten als mit Begeisterung. Lesen tun sie nur schr wenige Menschen und die Hälfte davon ist auch cher daran interessiert, sie akademisch zu komplettieren und zu erden; sie einzufahren wie Korn, um dann die prallen Getreidesilos als Unterbau einer bestimmten Geisteshaltung zu verwenden. Keine idealen Voraussetzungen. Die Dichtung selbst hat einen gewissen Gefallen an ihrer AuBenseiterrolle gefunden und teilweise einen gewissen Anspruch daraus gemacht. Damit geht auch teilweise einher, dass ein publikumsferner Erlebnishorizont geschaffen wird. Manche werden sagen, dass dies die endgültige Erfüllung der Lyrik, manche, dass es ihr Ende sei. Ich möchte mich keiner der beiden Seiten anschließen und auch nicht die mindere Relevanz dieser Frage bestreiten. Tatsache ist, dass die Lyrik ein bisschen verlernt hat, ihre Vorzüge herauszukehren und aufihre Möglichkeiten hinzuweisen. Nicht, dass sie es unbedingt nötig hätte — aber schaden würde es auch nicht. Ein Gedicht sagt seinem Leser gewissermaßen: Sei wie ich. Und im Augenblick des Lesens wird er zu dem, was er liest, er wird zu dem Sprachzustand, der ein Gedicht ist, und dessen Epiphanie [unvermutete Erscheinung] oder Offenbarung sind die seine. Sie sind immer noch seine, wenn er das Buch schließt, da er nicht in den Zustand davor zurückfallen kann. („Von Schmerz und Vernunft — Über Hardy, Rilke, Frost u.a.“, S. 268) Brodsky verstand es sehr gut, in seinen Essays die Kraft von Dichtung, poetischen Ideen und lyrischen Strukturen herauszukehren, auf nachvollziehbare und anziehende Weise, und die Faszination in den Erscheinungen von Metapher, Reim, Wendung und Syntax zu veranschaulichen. Uber Gedichte zu schreiben ist zumeist eine windige und geradezu durch Tautologien bedingte Tatigkeit — und doch liegt in ihr auch die Chance auf eine Erweiterung (oder spiritueller: Erweckung) vorhandener lyrischer Kapazitäten —, wie man in Brodskys Texten immer wieder sehen kann. Eine Anleitung zum Lesen von Gedichten ist, wenn man es klug anstellt, keine Bevormundung, sondern das Aufstoßen der Tür zu einer Welt, die man dann selbst durchwandern kann. Stellen Sie sich vor, Sie lesen ein Gedicht, aber es ist auf den ersten Blick bloß eine in vielen Schemen anklingende Wortkonstruktion — und dann, nach dem Lesen von Brodskys filigranen Betrachtungen, mit all ihren Anstößen, begreifen Sie ein Gedicht wieder neu als Ursprung einer wortsinnlichen und bedeutungsbeseelten Erfahrung, mit zahlreichen kleinen Facetten von Sprache, Historie und Idee; erkennen einzelne Zeilen als die Kunstwerke an, die sie sind. Und die Botschaft als eine Kontur mit übergreifender, tiefschürfender Ambivalenz. Es kann von mir allein vielleicht nie ganz deutlich gemacht werden, mit welcher langsam sich einstellenden Begeisterung das Lesen der Essays von Brodsky einhergeht, aber es ist eigentlich das nachhaltigste Gefühl am Ende seiner Texte — eine Begeisterung, gepaart mit einer wieder entfachten Neugierde und dem Gefühl, nun selbst das besprochene Gedicht, das besprochene Thema, auf einer ganz neuen Ebene zu verstehen, die zwar von Brodsky angeleitet wurde, die man aber selbst aus der Tiefe in sein Bewusstsein gehoben hat. Der große Baratynskij charakterisierte seine Muse, indem er ihr ein „unverwechselbares Gesicht“ andichtete. Im Erwerb dieses unverwechselbaren Gesichts liegt der Sinn der menschlichen Existenz, denn für dieses Unverwechselbare hat die Natur den Menschen genetisch vorprogrammiert. Unabhängig davon, ob einer Leser oder Schriftsteller ist, hat er zu allererst die Pflicht, ein Leben zu meistern, das nur ihm gehört, und das ihm nicht aufoktroyiert oder von aufen vorgeschrieben worden ist, auch wenn es noch so glänzend erscheint. Denn jeder von uns hat nur dieses eine Leben, und wir wissen nur zu gut, wie es ausgehen wird. Es wäre deshalb unverzeihlich, die einmalige Chance zu vergeuden, um [stattdessen] in eine andere Rolle zu schlüpfen, fremde Erfahrungen zu übernehmen und quasi als Tautologie zu leben. (Zitat aus der Nobelpreisrede) Das Wort „moralisch“ hat, ebenso wie das Wort „Instanz“, nicht selten einen üblen Beigeschmack und während ersteres heute häufiger mit Spott denn im Ernst ausgesprochen wird, steht letzteres im Bewusstsein der meisten Menschen für eine (konservative) Positionierung mit dogmatischer Ausrichtung — also etwas, das einen undefinierbaren Wert hat und allerhöchstens Stabilität gewährleistet. Dass eine moralische Instanz auch ein zutiefst menschliches Erlebnis sein kann und einhergeht mit einer Synthese aus Hoffnung, Erkenntnis, Gelehrsamkeit und Engagement, dabei Wandelbarkeit und Schönheit einschließt, ist eine Erfahrung, die man in den Texten Brodskys ebenfalls machen kann. Wobei moralische Instanz vielleicht schon wieder ein zu großer Begriff ist. Vielmehr ist es so, dass die humanistische Idee Brodskys Texte durchdrungen hat und in zahlreichen Rückständen enthalten ist — funkelnde Rückstände von Logik, Überzeugung und Zweifel. Als moralische Rückversicherung ist die Literatur zuverlässiger als ein Glaubenssystem oder eine philosophische Doktrin. [...] Ich möchte hinzufügen, dass ich davon überzeugt bin — leider nicht empirisch, nur theoretisch — dass es für einen, der Charles Dickens gelesen hat, problematischer ist, seine Mitmenschen im Namen einer Idee zu töten, als für einen anderen, der nichts von Charles Dickens gelesen hat. (Aus: „Flucht aus Byzanz“) Was ist ein Essay? Im besten Fall die oberflächlich komplexeste und weit verzweigteste Form von Literatur, die wir kennen. Beschreibend und erforschend ist der Essay gleichsam erklärend, weil eine Form der sachlichen Literatur, aber auch erzählend und erfindend in jedem einzelnen seiner Worte, welches zu erklären sucht. Die wichtigste Eigenschaft eines Essays jedoch ist eine, die sich nur ganz schwer beschreiben lässt und deren beste wörtliche Entsprechung in diesem Zusammenhang abstrakt anmuten mag: denkend. Die besten Essays sind neuronale Feuer, Dezember 2016 39