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vogelperspektivische Nahaufnahmen; sie verbinden Gedanken und Wirklichkeit zu einem einzelnen, literarischen, Gefüge. Brodsky Essays sind denkende Gebilde, wie ich sie bisher sonst nur bei Jorge Luis Borges erlebt habe. Ihre Struktur hat zwar einen klaren Ausgangspunkt und einen ebenso handlichen Wirkungsbogen, eine die Atmosphäre bestimmende Dichte, aber darüber hinaus wird mehr in ihnen aufgeworfen und begraben, als eine einzelne Lektüre erkennen kann. Egal, ob es eine nebenbei gemachte Bemerkung oder eine Ausführung zum Kern des Themas ist — immer haben die Texte die Tendenz eine geistige Beschleunigung beim Leser auszulösen, — eine Nachhaltigkeit von literarischer Erfahrung, die mit wenig vergleichbar ist; weil sie so oft zu einem kleinen Satz, einer geradezu spärlichen Erkenntnis führen, die doch auf ihre Art vollkommen ist. Die ewige Stadt gleicht einem riesigen alten Gehirn, das vor langer Zeit jedes Interesse an der Welt — als etwas zu leicht Fasslichem — verloren hat und sich nur noch seinen eigenen Rissen und Falten widmet. Während man sich durch seine Engstellen kämpft, wo schon der Gedanke an einen selbst zu beschwerlich ist, oder über die offenen Flächen, wo das Universum schon als Plan belanglos erscheint, fühlt man sich wie eine abgenutzte Nadel, die die Rillen einer ungeheuren Schallplatte abfahrt, zur Mitte und wieder zuriick, und ihr mit den Sohlen die Melodie entlockt, die die Tage von einst der Gegenwart zusummen. Es ist das wahre His Master Voice und verwandelt einem das Herz in einen Hund. Geschichte ist kein Lehrfach, sondern etwas, das einem nicht gehört — was die wesentliche Definition von Schönheit ist. (Aus einer Hommage an Marc Aurel und einer Betrachtung der Antike und der Stadt Rom. Aus: „Der Sterbliche Dichter“.) Dann natürlich die sprachlichen Qualitäten, die bemerkenswert sind — im treffsicheren Wortschatz, in den übergreifenden Satzfolgen, die wie ein genau ins Verständnis passendes Gefüge ineinander greifen — im ganzen Ton, der immer über das Ziel hinausdenkt und es trotzdem trifft, bedächtig und allein durch die Erkenntnisdichte nachdrücklich. Stets voller neuer Ansätze und ebenso vieler fester Grundsätze passt sich seine Argumentation gestalterisch an die atmosphärische Idee des Themas an, die beiläufigen Wendungen nehmen jede noch so scharfe Kurve mit Gewinn. Sicher könnte man eine Relation herstellen zwischen der Kleinheit des Details und der Intensität der ihm gewidmeten Aufmerksamkeit, wie auch zwischen dieser und der eigenen geistigen Leistung, weil ein Gedicht — jedes Gedicht gleich welchen Themas — an sich ein Akt der Liebe ist, weniger der des Autors zu seinem Thema als der Sprache zu einem Stück Wirklichkeit. Wenn oft ein Hauch Elegie, ein Mitleidston anklingen, dann weil es die Liebe des Größeren zum Kleineren, des Dauernden zum Flüchtigen ist. (Aus: „Der sterbliche Dichter“) Brodsky ist auch als Essayist oft noch ganz Dichter — nicht so sehr im formalen Sinne, aber — wie der Textausschnitt oben anklingen lässt - in der Art, wie er an seine Themen herangeht: nie zu schnell, prägnant, filigran und mit einem Zug zur Tiefe und zum resignativ-hoffnungsvollen Duktus, der bevorzugten Stimme der Elegie. Gerade deshalb ist seine Essayistik, die eine solche Fülle an gelungenen Geschichten, Sentenzen und Betrachtungen enthält, keine einfache Lektüre. Es ist Meisterschaft und die ist in der Literatur immer ein wenig zu groß, als dass man alles darin auf einen Blick fassen könnte. Trotzdem sind seine Texte oft auf schr natürliche Art intelligent, da sie das Angenehme und die Klarheit im Fluss der Wörter nie gänzlich aussparen, sodass man ihnen kein bloßes Abstrahieren, noch offensichtliche, von 40 ZWISCHENWELT oben herab gesprochene Belehrung vorwerfen kann. Literatur mit Anspruch, aber ohne elitäre Zäune. Tragödien sind das bevorzugte Genre der Geschichte. Besäfe die Literatur nicht die ihr eigene Spannkraft, würden wir nie etwas anderes gekannt haben. Tatsächlich ist es ein Akt der Selbsterhaltung von Seiten der Prosa, wenn sie eine Komödie oder einen Schlüsselroman hervorbringt. (Aus „Flucht aus Byzanz“) Literatur ist nicht nur eine Art, die Andeutungen, Ideen und Mechanismen der Welt nicht im Zeitraffer, sondern im Rahmen einer gestaltbaren Geschichte zu erleben, sondern auch die Aufhebung jeder totalitären Idee. Denn wenn ein Roman gut ist, zeigt er nicht allein Gut und Böse, richtig und falsch, sondern bricht die Konzepte auf; wenn ein Gedicht gut ist, zeigt es nicht nur Schönheit, sondern filtert sie durch die Nachdenklichkeit, schafft Abriebe und Widersprüche, Fehl und Flüchtigkeit. Gute Literatur ist immer auch ein Spiegel und ein Weg in die Reflexion; ist immer eine Schilderung, deren Wertung uns allein obliegt (oder, wenn wir klug genug sind, es zu erkennen: die niemandem obliegt, weil eine Wertung allein nichts ändert, das Sinnbild des Stillstandes ist). Diese Dimension von Literatur ist nicht die wichtigste, vielleicht nicht einmal die nachhaltigste. Aber dennoch ist sie nicht zu unterschätzen. Brodsky lässt diese Komponente immer wieder durchscheinen. Wer die Metaphysik eines individuellen Dramas begreift, hat gröfere Chancen, dem Drama der Geschichte zu trotzen. (Aus: „Flucht aus Byzanz“) Mitten in diesem Essaywerk stehen, das sollte nicht vergessen werden, der Glaube und die Hoffnung. Sie sind umringt von Wissen, Anteilnahme, Gelehrsamkeit, Brillanz und Spott, von Erläuterungen, Darreichungen und Anschaulichkeiten; von Lakonie und Warnung. Aber trotz all dem bilden Glaube und Hoffnung das Zentrum. Man spürt sie hinter jeder Analyse, in jeder Herangehensweise. Sie sind das Meer, über das jeder der Texte segelt, egal, wohin es geht, ob zur Liebeserklärung oder zur Anklage. Es ist der Glaube und die Hoffnung, dass wir uns noch genug für das Leben in dieser Welt interessieren, dass wir uns nicht mit der einen Version der Geschichte oder des Fernsehens zufrieden geben, sondern uns eben auf die nahezu unendlichen Versionen der Literatur einlassen — nicht um uns darin, in dieser Ambivalenz, zu verlieren. Sondern um zu erkennen, zu begreifen. — Zu erkennen, dass Menschlichkeit mehr mit Verstehen und Toleranz zu tun hat als mit Urteil und Strafe. — Zu begreifen, dass „Richtung“ nicht immer ein Wegweiser, dass „Bezeichnung“ keine Grenze, dass „Schönheit“ kein Konzept, sondern eine konzeptfreie Tatsache ist. Und um herauszufinden, wer wir selbst sind, was die Faszination uns bieten kann. Wenn Kunst die Menschen etwas lehrt, dann, wie Kunst zu werden: nicht wie andere Menschen. Falls die Menschen überhaupt eine Chance haben, etwas anderes als Opfer oder Schurken ihrer Zeit zu werden, besteht sie in der prompten Reaktion auf die Schlusszeilen von Rilkes Archaischem Torso Apollos: ... denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du musst dein Leben ändern.“ Der Dichter „Wir sind zu zweit. Ein Regenguß erkundet mit weichem Schnabel wie ihm Fenster munden,