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an das Ding. Leben - eine Zeitform.“ Man wird, wenn man aufmerksam liest, mit der Zeit verstehen, dass hier viel Zärtlichkeit und Lebensnähe enthalten sind, aber ihre versteckte Art ist der Versuch die Diskrepanz zwischen Gedicht und Realität zu überwinden und das Gedicht nicht als Überhöhung, sondern bloß als gezieltere Ausdrucksform des Seins zu begreifen, als Bindeglied und nicht als gänzlich ungebunden. „Und wie ein Geizhals seine armen Vettern zur Küche einlässt, lässt mein Ohr den Regen nun dringen an den schlafgetrübten Sinn: noch nicht Musik, doch auch schon nicht mehr Lärm.“ Erkenntnis. Sie gehört so zentral mit der Person Brodsky zusammen, dass man verwundert ist, ihre Finger selten offen im Spiel seiner Verse zu schen. Kaum ein offener Tadel, kaum Belehrung, keine Predigt. Beinahe übersicht man dabei die weiträumigen Gesten. Es ist schwierig, sie zu schen, denn in sich trägt Brodskys Lyrik auch eine große Einheitlichkeit, die eine glatte Oberfläche vortäuscht, wo vielstimmige Ideen sich ausbreiten und die Gewänder häufig wechseln. „Die Stunde früh. Es dämmert. Flußher Dampf. Im Winde tanzen Kippen um die Urne. [...] Es nieselt.“ „Zünd an die Kerzen. Und hör auf, man müsst erhellen jemands Dämmerung durch ihr Licht. Von uns hat niemand über andre Macht — geheime Wünsche, die nur Unheil bringen. An mir ist's nicht, dich, Schönste, zu umfangen, und nicht an dir, mich weinend anzuklagen. Legt auf die Dinge selber doch das Wachs sich, und nicht auf das Denken von den Dingen.“ „Der Ton - gleich einem sich entrollnden Band — ist eine Art Verlängerung der Stille.“ Gerda Spiegler Mein dritter Pass war grün Ein sehr verregneter März... Doch für uns Juden bedeutet ja Regen Glück, Erfolg und Erfüllung all unserer Träume. Jetzt ist es fünf Uhr Nachmittag und ich sitze vor einer Tasse Kaffee in unserem winzigen Vorzimmer in Forest Hills, New York City, und betaste das Tischtuch liebevoll mit meiner linken Hand. Es ist eines der ganz antiken Tischtücher, bestickt mit blauen, roten und grünen Zwergerln und umgeben von einer blütenweißen handgehäkelten Spitze, ein Erbstück meiner Budapester Großmutter. Ich hatte es, ganz schlau, aus Wiener-Tel-Aviver Wäschekasten meiner Mutter „entnommen“ — das heißt, gestohlen, während sie in der Küche den Schabbat vorbereitete - und weggepackt, unbemerkt. Denn in dem riesigen Amerika würden mich lange Perioden von weinendem Heimweh befallen und das Erbstück roch frech und laut nach „Mama“ — oder ihrem Parfum. Ich kaue sehr langsam an einem selbstgebackenen Vanillekipferl und seufze in die Kaffeetasse hinein. Wie immer bin ich müde von der langen und langweiligen Fahrt mit der Untergrundbahn von meinem Brooklyner Gymnasium, wo ich seit einem Jahr Deutsch und Französisch unterrichte — beides dank meines dreijährigen Sprachunterrichts im Realgymnasium BRG2, von September 1935 bis März 1938. Nach dem „Anschluss“ am 13. März 1938 bin ich Und Brodsky ist noch mehr als das, aber mehr kann und sollte ich nicht zu ihm sagen. Für jeden, der sich mit einem Gedicht und mit Gedichtzyklen größerer Länge und Tiefe intensiv beschäftigen will, der Abschnitte gerne zweimal, dreimal liest, um sie ganz zu verinnerlichen und ihre konspirative Kraft zu erfahren, wer ein Buch als einen Schatz vielfältiger Elegien zu schätzen weiß und wen es reizt, sich auf eine von punktierten Gedanken, wechselnden Tonlagen und konzentrischen Stimmungen durchsetzten Welt einzulassen, die das Unverstellte, das Leichte ebenso wie das Rätselhafte und Stille kennt, dem kann ich Brodsky, als Dichter, empfehlen. Seine Poesie hat nichts Fachmännisches, Beherrschendes, vielmehr ist sie stets ein wenig verloren, wellenhaft, losgelassen, dann wieder auf den Punkt gebracht, nachdenklich und bald wieder verharrend im Ausdruck, der sich eine Schneise bricht. Aber sie findet kein Ende, sie findet keinen Anfang, sie findet nur: Verse. „Alle Pendel halten ein. August. Nur die Fliegen treiben es bunter denn je - in ausgetrockneten Flaschenhälsen. Die Zeiger auf den Zifferblättern verschieben sich wie Scheinwerferarme, die nach Engeln haschen.“ „Mittagspause. Aus einem Fenster dringt — deutlich zu hören — Klaviermusik. Schon ist die Stille überwuchert vom b-Moll-Getön wie der Fisch von den Schuppen.“ „Schnee fällt weiß und sucht im Raum nach kleinen schwarzen Punkten.“ „Nichts geht umsonst vorbei, schon gar nicht die Zeit.“ Timo Brandt wurde 1992 in Düsseldorf geboren und wuchs in Hamburg auf. Seit 2014 Studium am Institut für Sprachkunst an der Universität für angewandte Kunst Wien; Mitherausgeber der Literaturzeitschrift JENNY. Preisträger beim Treffen junger Autoren 2013 im Rahmen der Berliner Festspiele. ein wenig gestorben. Ich erwachte erst wieder in der „Judenschule“ am Augarten, nach einem Schulweg von über eineinhalb Stunden. Jetzt läutet das Telefon. Ich mach schnell einen großen Schluck, fluche kurz in miesem Straßenhebräisch und heb ab. „Have I dialed correctly? Am I talking to Frau Gerda?“ „Yes, that's me. I simply adore being called by my first name even by a total stranger.“ And already I fathom disaster. » Who, please, are you, dear Sir?“ »l happen to be a godfearing member of the so called ‚chosen people‘ and my name is Andrew Cohen.“ „An American Jew!“, I cry out happily. „Not exactly, Frau Gerda. Iam a Jewish American and proud of it. Born and bred in San Francisco, California. With a lawyer’s diploma from Harvard University. Unfortunately, the only Hebrew words I can pronounce properly are mazl tov, bar mizwa and Yom Kippur. And of Course ,Shalom’‘. And you, Frau Gerda, a Viennese-Israeli Jewess are invited to appear at the Supreme Court at ten thirty on Tuesday, March 26, 1968, hopefully to be sworn in as a bona fide U.S. citizen. Let me add that I found your handwritten application charming.“ Dezember 2016 43