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der guten koscheren Gänseleber, sitzt mir noch immer im Kopf, wenn auch nicht an meinen Hüften. Und ich bin bestimmt nicht „attractive“, wie sich das für eine angehende Amerikanerin gehören würde. Auch Damen über vierzig sind noch „girls“ in diesem Land. „You will be a very intelligent and a very goodlooking American citizen. Yes, a wonderful new American, Mrs. Marani.“ Ich will mir an die Haare greifen, aber die sitzen ja unter einem Turban, denn sie sind schmutzig. Ich hatte keine Zeit, sie mir zwischen Vonder-Schule-Kommen und Nachtmahl-Machen von der Friseurin waschen zu lassen und mir dann eine schöne Frisur anzuschaffen. War schon besser so. Mit dem Turban. Sicher bin ich die erste neugeborene Amerikanerin mit einem schmutzigen Kopf. Signore Pastore klappt das Klassair zu. Hör ich ein leises Rauschen um ihn? Ist es mein Leben in dem dicken „American file“ — so Klassair auf Amerikanisch -, das sich wehrt, in seiner früheren Wiener Größe einfach zerquetscht zu werden? „Du hast nichts von deiner Wiener Würde verloren“, sag ich zu meinem Leben. Ich will ja hier nur zu Gast sein. Nicht mehr. Um uns, mir und dem Kind, die Zukunft zu verbessern. Leicht ist es mir nicht ums Herz, als ich dann draußen von einem jungen „American girl“ gefragt werde: „Do you want to change your name?“ „Was? Meinen Namen soll ich auch auswechseln, zusammen mit dem Schuh? Da verlier ich mich ja ganz im fremden Land. Ich bin ja Israelin österreichischen Ursprungs, bin ich's nicht?“ „Lass dich in Ruh“, protestiert mein realistisches „Ich“ oder Herrn Sigmund Freuds „Es“ oder „Id“. „Lieber Sigmund Freud, zerbrich du dir den Kopf, was ich bin und wo ich hingehör.“ „Am End nirgends? Das wär ja eine schöne Bescherung. Traurig wär's. Aber du hast auch nicht immer richtig gehandelt, Professor Freud. Du hast aus Erzvater Moses einen ägyptischen Prinzen gemacht in deinem letzten Roman — noch vor deinem Exil in London. Das verzeihe ich dir nicht. Bitte lass doch dem Moses sein Judentum... Behält man sein Wienertum und sein Judentum ein ganzes Leben lang? Und schon stampfe ich tapfer voran wie ein tapferes Pinzgauer Pferd. Mein Judentum geht mit. Es wiegt nicht viel, das Pinkerl Judentum, das man sich im Marz 1938 auf den Buckel geschnallt hat. Nur die Welt verzeiht uns nicht einmal unsere arme, schwer erkämpfte Leichtigkeit und gibt uns stattdessen ein schweres Schicksal. Wir überlebten, wie immer. Der „Ewige Jude“ nach 1945 hat wieder den Wanderstab geputzt und genutzt... So steh ich denn vor dem amerikanischen „Supreme Court“ — dem Hohen Gericht in der Adams Street Brooklyn, New York. Ich betrachte den imposanten Bau. Grau in Grau. Dann geh ich ein Stückerl weiter. Dreh mich um. Auch die Fenster sind trüb oder schmutzig. Alt. Ich geh langsam weiter. Wieder besinn ich mich. Es ist eben alles anders. Aber Adam heißt ja Mensch auf Hebräisch. Also wenigstens etwas. So bin ich halt von heute an eine amerikanische Menschin. Klopf dir auf die Schulter, so wie du einst stolz auf die Klaviertasten im grünseidenen Wiener Speisezimmer geklopft hast, abschiednehmend von deinem Wien — dem unausgeträumten Traum. „Komm, Ima, gehn wir nach Haus. Ich kauf dir Blumen. Und du brätst uns ‚Äpfel im Schlafrock‘.“ „Ima“ hat er gesagt. Das heißt „Mutter“ in der Muttersprache meines Kindes. „Nach Hause“ hat er gesagt. Beide Worte singen, wenn er sie ausspricht. Tut ihm die Fremde nicht weh? Ist denn das möglich? Und sein Lächeln ist jetzt das Lächeln meines Vaters auf dem Weg ins Schwedencafé im Frühling 1936. Und als wir in die dreckige, verstunkene, nach Whiskey riechende Untergrundbahn einsteigen, höre ich mich in dem lauten Getöse leise weinen, wie damals auf der Schwedenbrücke, nach der Oper, meine Hand in Papas Hand, im Herbst 1937, dem letzten schönen Herbst. Wie man doch immer ein Kind bleibt — sogar mit dem eigenen Kind an der Hand. Professor Rommel, einst Geometrie-Lehrer, wartet auf mich in irgendeinem Grab an der Simmeringer Hauptstraße. Und auch der gute Arthur Schnitzler. Und die böhmische Großmutter. Ich hab viel zu tun am Vierten Tor. Das Fahrgeld nach Wien muss ich verdienen für uns zwei. Ja, ich nehm dich mit. Du sollst sehen, was mir einst Heimat war. Wo ich auch heute noch am liebsten bin. Das Leben als Wiener Jüdin tut nicht mehr weh. Man lebt es mit leisem Bedauern - aber getröstet. Mit zaghaftem Vertrauen. Die Erinnerung trägt einen durch die Welt, von Land zu Land, von Meer zu Meer und sie wächst und wird immer schöner mit den Jahren. Ein ganzes Leben lang schaut man auf die Wiener Kindheit zurück, so wird sie immer länger, immer kostbarer. Ist das gut so? Ich weiß es nicht. Ich schweige mir einen Seelenfrieden ins Herz - als Geschenk, damit der Wanderstab seinen Schrecken verliert. Damit das Suchen nach der wahren Heimat erträglich wird. Damit die Erkenntnis, dass es kein Heimatfinden gibt, eine neue Persönlichkeit formt, die dir mit den Jahren nicht mehr fremd ist. Das neue „Ich“ ist erwachsen — ohne Bitterkeit. Heute, mit 91 Jahren in Tel Aviv, ist Wien ein blühendes, summendes Gestern. Die Melodie des Summens zaubert nur ein leises Lächeln hervor - es sitzt auf den alten Lippen, es steht einem gut zum alten Gesicht... Gerda Spiegler wurde am 7.1.1925 in Wien geboren und lebt in Tel Aviv. Sie kam mit 14 mit einem Kindertransport nach Palästina. Sie studierte in New York an der „New School for Social Research“. Sie war Französisch- und Hebräischlehrerin. Sie war auch als Übersetzerin tätig. Gerda Spiegler veröffentlichte Gedichte und Erzählungen in der „Jerusalem Post“, „Maariw‘“, in „Israel Nachrichten“ und in MNEMOSYNE - ZEIT-Schrift für jüdische Kultur. Zuletzt in ZW erschienen: „Gibt es ein Zurück nach Wien... in die verzauberte, verlorene Heimat?“ (1/2015), „ZAHAL. Mein israelisches Militär und ich“ (4/2015). Dezember 2016 45