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In der Zeit der Bombardements durch die V2* auf London organisierten die Behörden Evakuierungen für Kinder. Die Führung des Austrian Centre entschied 1944, dass die österreichischen Kinder Schutz in einem großen schottischen Schloss namens Maxpoffle finden sollten. Es war im Besitz der britischen Regierung. Das Schloss wurde vorher von den Soldaten der Czechoslovak Independent Armoured Brigade Group benutzt. Als wir ankamen, trafen wir auf entsetzlich aussehende Räume. Wir nutzten nur einen Teil des riesigen Gebäudes. Meine Kollegin Bella und ich versorgten mit der Leiterin Betty Mandel knapp 30 Kinder, darunter waren die Töchter von Leopold und Eva Spira und die Tochter Lena von Georg und Elfriede Schwarz. Als ich mich nach Kriegsende schon um meine Heimreise bemühte, sah ich meine Mutter in London wieder. Vorher konnten wir einander hauptsächlich nur Briefe schreiben! Meine Mutter war, wie bereits erzählt, in Wien Schriftstellerin, musste aber in England lange Zeit als Hausangestellte arbeiten. Sie war Hausarbeiten eigentlich gar nicht gewohnt, da sie früher in Wien selbst Dienstmädchen gehabt hatte. Nach dem Krieg trennten sich unsere Wege wieder. Mutter zog zu meinem Vater ins damalige Palästina und arbeitete als Übersetzerin. Mein Vater war Gärtner in seinem Blumengeschäft in Petach Tikwa (hebräisch: Tor der Hoffnung). Die Young Austrians wollten für ein unabhängiges, demokratisches Österreich kämpfen, daher kehrte etwa ein Drittel der Mitglieder aus der Emigration zurück, die am stärksten politisch Geprägten. Heimkehr nach Österreich Ich kehrte im September 1946 nach Wien zurück. Die rasche Heimreise beruhte auf eigenem Willen. Ich schwor mir nämlich schon knapp vor meiner Flucht aus Wien, als ich mit der Straßenbahn durch die Lainzer Straße fuhr, folgendes: „Ich komme ganz bestimmt nach dem Nazispuk in meine Heimatstadt zurück!“ Ich sollte als gerade eben Heimgekehrte laut der Kinderland-Leiterin Dina Lindenfeld nach Vorarlberg fahren, um dort eine FÖJ-Gruppe (Freie Österreichische Jugend) aufzubauen. Also so weit wegvon Wien, das war mir zu viel! Außerdem wollte ich ja studieren. Am Anfang arbeitete ich in einem USIA-Betrieb in Schwadorf in einem Kindergarten, dann machte ich meinen Abschluss als Kindergärtnerin und arbeitete 40 Stunden pro Woche, um mein Studium zu finanzieren. 1952 konnte ich mit dem Doktorat das Pädagogikstudium abschließen. Bis in die 60er Jahre herrschte eine negative Süimmung gegen die aus der Emigration heimgekehrten Kommunisten und Juden. So hatte ich lange Jahre als Akademikerin keine Chance auf einen entsprechenden Posten. Ich wurde in die Kinderpsychologie von Anna Freud eingeführt. Als sie noch in Wien war, hatte Anna Freud drei Zielsetzungen, nämlich Forschung - Ausbildung - therapeutische und psychosoziale Hilfe für sozial schwächere Familien. Ich fand jedoch in Wien Ende der 1940er Jahre wenig Platz für pädagogische Konzepte, wie sie im „Roten Wien“ (Montessori-Pädagogik etc.) vorhanden gewesen waren. Ich blieb im Sinne Anna Freuds aktiv und initiierte einen „Anna-Freud-Kindergarten“, der erst 1981 eröffnet werden konnte. Abgeleitet vom eigenen Fliichtlingsschicksal habe ich von 1984 bis 2000 als padagogische Leiterin ehrenamtlich die Kindergärtnerinnen der Frente Polisario ausgebildet. Zwei Mal im Jahr war ich dazu in einem Lager in der WestSahara. Ich arbeitete von Anfang der 1960er Jahre als Lehrerin und anschließend von 1984 bis 1990 Wolf Suschitzky wurde am 29. August 1912 in Wien als Sohn von Wilhelm Suschitzky, der mit seinem Bruder Philipp 1901 Wiens erste sozialistische Buchhandlung in Favoriten und einige Jahre später den sozialkritischen „Anzengruber-Verlag Brüder Suschitzky“ gegründet hatte, geboren; seine Schwester war die berühmte Fotografin Edith Tudor Hart. 1934 flüchtete Wolf Suschitzky nach London; sein Vater, in Wien verblieben, beging kurze Zeit darauf Selbstmord — er sah nach dem Sieg der Faschisten in Osterreich keine Zukunft mehr fiir sich. In London angekommen, fotografierte er mit seiner Rolleiflex-Kamera zuerst Tiere im Londoner Zoo (urspriinglich wollte Suschitzky Zoologie studieren), bevor er seinen Blick auf das alltagliche Leben der Londoner Menschen richtete. Aufmerksamkeit erregte er mit Fotografien der Charing Cross Road, einer Straße in der Londoner Innenstadt, damals voller Buchhandlungen und in Büchern stöbernden Menschen. 1937 wurde er Kameraassistent und bald darauf Kameramann für den Dokumentarfilmemacher Paul Rotha (z.B. World of Plenty, 1943). Er wurde zu einer Schlüsselfigur der britischen Dokumentarfilmbewegung der 1930er und 1940er Jahre. Bis 1993 war Suschitzky als Kameramann bei insgesamt etwa 200 Film- und Fernsehproduktionen tätig. Zu seinen bekanntesten Arbeiten zählen Ulbysses (Regie: Joseph Strick, 1967) sowie der Gangsterfilm Get Carter (Regie: Mike Hodges, 1972) mit Michael Caine in der Hauptrolle. 2002 kuratierte Duncan Forbes eine Ausstellung dokumentarischer Fotografien Suschitzkys — bis zu meiner Pensionierung - als Direktorin an der Bildungsanstalt für Kindergärtnerinnen der Stadt Wien im 21. Bezirk. 2003 erhielt ich vom Bürgermeister die Otto-Glöckel-Medaille für meine pädagogischen Leistungen. Mein Bruder Rafael kehrte nicht nach Österreich zurück, nannte sich in England Erwin und begann als Lehrling bei Smith & Sons in einer großen Maschinenbaufabrik. Er studierte Maschinenbau, leitete eine Fabrik der gleichen Firma in Wales. Danach war er in Kanada mit der Leitung der Firma für ganz Nordamerika betraut. Nach der Pensionierung lebte er in Miami, Florida. In den 1950er Jahren erkrankte meine Mutter an Krebs, kehrte 1952 von Israel nach Wien zurück, um sich hier besser behandeln zu lassen. Jedoch verstarb sie an ihrem Krebsleiden. Obwohl ich eigentlich Atheistin bin, blieb ich meinem Vater zuliebe Mitglied der Israelitischen Kultusgemeinde. Außerdem ließ unser jüdisches Schicksal eine Trennung nicht zu. Unser Schicksal der Verfolgung, unsere Exilzeit war zwar unsere Jugendzeit, aber absolut keine leichte Zeit. Auch das Leben nach der Rückkehr war nicht einfach. Immer wieder mussten wir uns um Quartier, Arbeit und Ausbildung bemühen, die Unterbrechungen schadeten einigen sehr. Es kann nur ein Gedenken geben, wenn man die Geschichten mit Zeitzeugenaussagen und Dokumentationen in Erinnerung hält. 2008 wurden einige ZeitzeugInnen und WiderstandskampferInnen von Nationalratsprasidentin Mag.* Barbara Prammer zu einem Empfang ins Parlament eingeladen, darunter einige Young Austrians... in der Scottish National Portrait Gallery unter dem Titel „Get Suschitzky“. 2012 würdigte ihn die Viennale aus Anlass seines 100. Geburtstags mit einem Gala-Abend, bei dem Suschitzky selbst anwesend war. Kurz zuvor, im Juni desselben Jahres, wurde in der Galerie remixx in Graz eine Ausstellung mit seinen Arbeiten eröffnet. (Vgl. hierzu Gerhard M. Dienes: Über Wolf Suschitzky. Fotograf, Freidenker, Emigrant, Jahrhundertzeuge. In: ZW 3/2012). Die Wiener „Gesellschaft für Film und Medien“ SYNEMA hat ihm 2010 und 2014 zwei gründlich recherchierte und schön gestaltete Dokumentationen, hg. von Brigitte Mayr, Michael Omasta und Ursula Seeber, gewidmet. Wolf Suschitzky, seit 1996 Mitglied der Theodor Kramer Gesellschaft, ist am 7. Oktober 2016 im Alter von 104 Jahren in London gestorben. Dezember 2016 5/