OCR
Christel Wollmann-Fiedler Junge Mütter schieben Kinderwagen durch den Park von Babi Jar, Kinder mit Rollern und Fahrrädern begleiten sie, Kinderlachen ist zu hören, fröhlich ist die Stimmung. Die Blätter schimmern gelb-golden, herbstlich ist das Licht. Alte Menschen spazieren entlang der Pappelallee, lassen sich von der Sonne wärmen. Ruhe und Heiterkeit liegen über der Altweiberschlucht. In die Spätnachmittagssonne setze ich mich an den Wiesenabhang. Vor mir steht trotzig das Mahnmal von Michail Lisenko aus dem Jahr 1976, gegossen aus schwarzem Eisen, das an die in der Nazizeit ermordeten sowjetischen Bürger und Soldaten erinnert. Meine Gedanken gehen in die Vergangenheit, in das Jahr 1941, mein Geburtsjahr. Furchtbare Gewalttaten gegen jüdische Menschen geschahen bereits am 8. Juli im Norden Rumäniens an der Grenze zur Ukraine und anderen Gebieten. Jüdische Bürger wurden ohne Erbarmen von Nazischergen, von Rumänen und Ukrainern auf Feldern und im Wald erschossen und verscharrt, selbst der Nachbar machte mit. Erst vor Jahren erinnerte man sich der Grausamkeit von damals, das Buch von Simon Geissbühler „Blutiger Juli“ erinnert an das Geschehene. Zurück nach Kiew in die weit über eintausendfünfhundert Jahre alte stolze Stadt am drittgrößten Fluss Europas, dem Dnjepr. Historische Legenden und Mythen erzählen von der einstigen Gründung. Kirchen und Klöster bauten später die orthodoxen Christen mit byzantinischer Prägung, „Jerusalem des Ostens“ wurde die Stadt genannt. Bereits im Mittelalter war Kiew eine der größten Städte Europas. Erobert und zerstört wurde die Stadt, Fürsten verließen sie, Metropoliten blieben. Batu Khan, der Mongole und Enkel Dschingis Khans, eroberte die Stadt im 13. Jahrhundert, tötete einen Großteil der Bevölkerung und ließ sie niederbrennen, im 14. Jahrhundert wurde die Stadt litauisch, 1569 wurde sie polnisch-litauische Provinzhauptstadt. Im 17. Jahrhundert kamen Glaubenskriege hinzu, bis Kiew russisch wurde. „Mutter aller russischen Städte“ betitelt sie die Historie. Honoré de Balzac schwärmte gar vom „Nördlichen Rom“. Am Ende des 1. Weltkrieges entstand kurzfristig die Ukrainische Volksrepublik, 1920 wurde die Stadt Kiew sowjetisch, seit 1991 ist Kiew Hauptstadt der Republik Ukraine. Die Legende besagt, dass bereits vor über zweitausend Jahren Juden aus dem Byzantinischen Reich, dem Ostreich, nach Kiew gekommen seien. Eine große jüdische Gemeinde habe es im 12. Jahrhundert gegeben, berichteten jüdische Kaufleute, die auf der Seidenstraße unterwegs waren. Von einem jüdischen Stadtviertel war die Rede. Vom Nomadenvolk der Chasaren sollen die Kiewer Juden abstammen. Der Großteil der chasarischen Bevölkerung nahm seinerzeit, im 8. oder 9. Jahrhundert, die jüdische Religion an und war verbündet mit dem Byzantinischen Reich. Viel wird vermutet, viel wird spekuliert, Mythen umranken die Geschichten vom Kaspischen Meer und von der Steppe im Süden des Schwarzen Meeres. Ob sie stimmen oder nicht, interessant sind sie allemal. 1648 kämpfte der Kosake Bohdan Chmelnyzkyj gegen Adlige und Reiche, auch viele Juden wurden Opfer. Zum Nationalhelden der Ukraine wurde er. Kämpfe, Kriege und Verbote gegen Juden gab es in jedem Jahrhundert, ausgewandert sind sie bereits im 19. Jahrhundert in den Westen Europas und nach Amerika. In den Grenzen der heutigen Ukraine lebten vor dem 2. Weltkrieg 2,5 Millionen jüdische Bürger, 1,5 Millionen wurden im 2. Weltkrieg ermordet. Über 200.000 Juden lebten 1939 in Kiew. Golda Meir, geborene Mabowitsch, wurde 1898 in Kiew im Russischen Kaiserreich geboren, ihre Eltern flohen vor Pogromen und der Armut in die USA, 1921 zog Golda Meir mit ihrem amerikanischen Ehemann nach Palästina weiter. In den 1950er Jahren war sie Ministerpräsidentin in Israel. Wir alle erinnern uns an die Zigarrenraucherin mit der tiefen Stimme. 1978 starb sie in Jerusalem. Der umstrittene Ilja Ehrenburg, 1891 in Kiew geboren, starb 1967 in Moskau. Scholem Alejchem erblickte 1859 in einer kleinen Stadt bei Kiew das Licht der Welt, starb 1916 in New York. Der Verfasser von „Iewje dem Milchmann“ mit dem Lied „Wenn ich einmal reich wär“ ist uns wohlbekannt. Jahre seines Lebens verbrachte er in der pulsierenden Stadt Kiew, ebenso Isaak Babel aus Odessa, geboren 1894, unter Stalin 1940 erschossen. Vladimir Horowitz, der berühmte Pianist, studierte am Kiewer Konservatorium und wurde vielleicht sogar 1903 in der Stadt am Djnepr geboren, man weiß es nicht genau, und starb 1989 in New York. Am 22. Juni 1941 überfielen die Nazideutschen die Sowjetunion gegen sämtliche völkerrechtliche Konventionen. Das Unternehmen „Barbarossa“ startete. Ein Vernichtungskrieg sollte es werden und wurde es auch! Ein deutsches „Kolonialreich“ wollten Hitler und seine hörigen Offiziere im Osten errichten, die „arische Herrenrasse“ sollte Wohnraum im Osten bekommen. Den „Jüdischen Bolschewismus“ wollten sie in der Sowjetunion ausmerzen. Noch gab es verbiindete Staaten, die Hitlers Feldzüge unterstützten. Verschiedene andere europäische Gebiete und Länder waren bereits besetzt, als Kiew am 19. September 1941 auf äußerst brutale Weise eingenommen wurde. Stadtkommandant von Kiew wurde Generalmajor Kurt Eberhard, der sich 1947 in Stuttgart das Leben nahm. Wehrmacht, Sicherheitspolizei und SS unter ihrem Offizier Paul Blobel setzten das Massaker in die Dezember 2016 59