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sprechen zu ihm, erzählen ihm ihre Geschichte, gruppieren sich um das Weiß. Ich höre Objekte. Bei Gegenständen ist es möglich, sie nicht nur zu sondieren, zu benennen und durch die Sprache einen Sinn in ihnen zu erkennen, man kann ihre Verwandtschaft mit den Worten selbst erlauschen. Manche Dinge fühlen sich wie Hauptwörter an, Worte mit Körperlichkeit, Form und Gewicht. Sie haben eine eigenständige Qualität, vermitteln ein Gefühl, als könne man sie hinlegen und damit dieselbe Menge Welt um sie herum verdrängen. Andere Objekte sind Verben, sind im Fluss. Aber wenn ich sie sehe, höre ich sie. Ein Stapel Schalen ist ein Akkord. In De Waals Buch verschmelzen technische Interessen des Töpfers, psychologische des Schriftstellers, mimetische des Künstlers und wissenschaftliche des Forschers. Kapitel II Versailles — Dresden ist eine kleine Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts, dargestellt durch die Geschichte der Erfindung der Porzellanherstellung in Sachsen; die Alchimie unterwirft sich schrittweise der technisch-rationalen Vernunft. Am barocken Hof Augusts II. in Dresden begegnen uns Spinoza, Leibnitz und Newton. Der Mathematiker Tschirnhaus, der mithilfe von Brennlinsen die Bestandteile des chinesischen Porzellans analysiert, und sein Gehilfe, der junge Alchimist Böttger, der einst für sich beanspruchte, den Stein der Weisen entdeckt zu haben, sind die maßgeblichen Protagonisten dieses Kapitels, an dessen Ende das Geheimnis der Porzellanherstellung in Europa zum ersten Mal gelüftet wird. Porzellan ist das Arkanum. Es ist ein Geheimnis. Fünfhundert Jahre lang wusste im Westen niemand, wie Porzellan gemacht wird. Das Wort Arkanum, ein Mischmasch aus griechischen Konsonanten, ist dem Wort Arkadien angenehm nahe. Es muss, das fühle ich, irgendeine BUCHZUGÄNGE Verwandtschaft geben zwischen dem Urgeheimnis des weisen Porzellans und Versprechen in Erfüllung gegangener Sehnsucht, einer Art Arkadien. Die Scherbe ist das leitende Motiv der Komposition des Buches. Der subjektive Blick, die Reise des Erzählers, seine persönliche Geschichte, sein Leben, sein Handwerk und seine Kunst fügen die Erzählung zu einem fragilen Ganzen; das Bruchstückhafte jedoch bleibt offenkundig. De Waals Suche nach dem Weiß, verkörpert im Porzellan, ist sowohl die Suche nach dem Selbst wie die Suche nach dem Aufblitzen des Göttlichen in der Materie. Im Bruchstück, in der Scherbe, im bedeutenden Ding, das eine ganze Geschichte in sich zu tragen vermag, ist dies aufgehoben. Dies ist mein Gralsmoment, ich wahre ihn ehrfürchtig, und sie lachen mich aus mit meiner lächerlichen Epiphanie, denn dort oben ist ein ganzer Abhang voller Scherben, ein abrutschendes Gelände aus Bruchstücken, ein Lexikon all dessen, was Gefäßen zustoßen kann. ... Ich bücke mich und hebe eine Scherbe auf, sie ist dünn an der Basis und gedreht wie ein Jugendstilmädchen. ... Ich halte diese Scherbe, fahre mit dem Zeigefinger über das Muster; um so etwas herzustellen, muss man fühlen, wann die Porzellanerde so weich ist wie Leder, damit es zwischen Kammmuster und Schale ein wenig „Widerstand“ gibt. Zu weich, und es hakt und franst aus. Zu hart, und es rutscht weg, Oder die Schale bricht. Es sind diese Genauigkeit, dieser Exzess an einem einzigen Stück, die die Zeit für mich in sich zusammensinken lassen. Ich denke beim Lesen der „Weißen Straße“ an Walter Benjamin, lese nach im „Trauerspielbuch“ und finde folgendes Zitat: Was da in Trümmern abgeschlagen liegt, das hochbedeutende Fragment, das Bruchstück: es ist die edelste Materie der barocken Schöpfung. Denn jenen Dichtungen ist es gemein, ohne strenge Vorstellung eines Ziels Bruchstücke ganz unausgesetzt zu häufen und in der unablässigen Erwartung eines Wunders Stereotypien für Steigerung zu nehmen. Als ein Wunder in diesem Sinne müssen die barocken Literaten das Kunstwerk betrachtet haben. Und wenn es andererseits als das errechenbare Resultat der Häufung ihnen winkte, ist beides um nichts weniger vereinbar, als das ersehnte wunderbare , Werk‘ mit den subtilen theoretischen Rezepten in dem Bewufstsein eines Alchimisten. Der Praktik der Adepten ähnelt das Experimentieren der barocken Dichter. Was die Antike hinterlassen hat, sind ihnen Stück für Stück die Elemente, aus welchen sich das neue Ganze mischt. Nein: baut. (Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt: 1996, S. 156). Edmund de Waal ist kein barocker Literat, er ist wunderbarer Erzähler, der seine historischen Figuren mit Achtung und Hingabe modelliert, ein gewissenhafter Forscher, dem eine große Liebe zum Detail eignet, dem sich ein Verständnis historischer Zusammenhänge erschließt, ein Künstler, der in der Geschichte Form und Material für seine Arbeiten findet und die Geschichte des Porzellans selbst weiterschreibt, indem er „all das vollkommene, vorläufige, tröstliche, melancholische, bedrohliche, leuchtende Weiß“ seiner Reise für seine Kunst verwendet. Es lohnt sich, Edmund de Waal auf dieser Reise zu begleiten. Und die Übersetzung ins Deutsche ist sehr gut gelungen. Daniel Mueller Edmund de Waal: Die weife Strafe. Auf den Spuren meiner Leidenschaft. Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Wien: Paul Zsolnay 2016. 464 5. € 26,80 Hannah Arendt — Günther Anders: Schreib doch mal hard facts über Dich. Briefe 1939 bis 1975. Texte und Dokumente. Hg. von Kerstin Putz. München: C.H. Beck 2016. 286 S. € 30,79 Bettina Banasch, Helga Schreckenberger, Alan E. Steinweis (Hg.): Exil und Shoah. München: edition text + kritik 2016. 395 S. € 38,00 Mosche Ya’akov Ben-Gavriel: Jerusalem wird verkauft oder Gold auf der Straße. Fin Tatsachenroman (Tagebuch 1917). Hg. und mit einem Nachwort von Sebastian Schirrmeister. Wuppertal: Arcvo 2016. 253 S. € 22,Doerte Bischoff (Hg.): Exil — Literatur - Judentum. München: edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag 2016. 351 S. (Exil-Kulturen. Bd. 1. Hg. von D. Bischoff). € 39,00 64 ZWISCHENWELT Volker Bühn: Alfred Grünewald. Werk und Leben. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2016. 470 S. €55,Bühns monumentale Recherche geht nicht nur akribisch den Lebensspuren eines nahezu Vergessenen nach, sondern führt auch ein in literarische Strömungen und Zirkel der Zwischenkriegszeit, in denen höchst eigensinnig ästhetische Konzeptionen verfolgt wurden, die seitens der Literaturgeschichtsschreibung bisher fast völlig unberücksichtigt blieben. (Eine erste Zusammenfassung seiner Studien veröffentlichte Bühn in ZW Nr. 2/2013, S. 28-32.) Bora Cosié: Konsul in Belgrad. Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Grießhaber. Wien, Bozen: Folio 2016. 239 S. € 22,Ernst Fischer: Neue Kunst und neue Menschen. Literarische und essayistische Texte aus seinen Grazer Jahren (1918-1927). Hg. und mit einem Nachwort von Jiirgen Egyptien. Graz: CLIO 2016. 400 S. € 25,00 Alfred Grünewald: Es gibt Zeiten, die Anachronismen sind. Aphorismen, Fabeln, Essays. Hg. von Volker Bühn und Friedemann Spicker. Bochum: Universitätsverlag Brockmeyer 2016. 137 S. € 11,90 Volker Bühn setzt damit seine Editionen von Werken Grünewalds fort. Bereits 2013 erschienen ja „Sonette an einen Knaben und andere Gedichte“ und „Reseda. Novelle und andere Prosa“. (Vel. J. Aistleitner in ZW Nr. 3-4/2013, S. 75f.) Man muss bis ins Jahr 1990 zurückgehen, um eine andere Neuausgabe von Texten des Autors zu finden, der im September 1942 im KZ Auschwitz-Birkenau mit Giftgas ermordet worden ist. Fred Heller: Das Leben beginnt noch einmal. Schicksale der Emigration. Mit einem Vorwort von Fred Heller und einem Nachwort von Reinhard Andress. Wien: Milena 2016. 211 S. € 22,90