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Renate Ahrens „Alles wandelt sich, nichts vergeht“ Laudatio auf Guy Stern Am 14. März 2017 erhielt Guy Stern in der Deutschen Nationalbibliothek Frankfurt den OVID-Preis für sein Lebenswerk. Dieser Preis, erstmals an Guy Stern verliehen, soll fortan alle zwei Jahre vom PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland für eine herausragende literarische Buchveröffentlichung vergeben werden. In seinem Aufsatz Was heifft und zu welchem Ende studiert man Exilliteratur? schreibt Guy Stern: „Das Wort ‚Elend‘ (...) hat die althochdeutsche Wurzel elilenti und das hieß ‚in fremdem Land‘ oder ‚ausgewiesen‘. Trotz dieses Elends, trotz ihres Vertriebenseins, schrieben Exilanten aller Zeiten und Länder. “' Er verweist auf Ovid, der im Jahr 8 n. Chr. vom Kaiser Augustus in die Verbannung ans Schwarze Meer geschickt wurde und dessen Werk am Anfang der Exilliteratur steht. In Goethes Übersetzung zitiert Guy Stern die ersten Zeilen von Ovids Klagelied Cum repeto noctem! Wandelt von jener Nacht mir das traurige Bild vor die Seele, Welche die letzte für mich ward in der römischen Stadt, Wiederhol‘ ich die Nacht, wo des Teuren soviel mir zurückblieb, Gleitet vom Auge mir noch jetzt eine Träne herab. Und weiter heißt es bei Guy Stern: „Wir studieren (...) auch deshalb Exilliteratur, weil das Exil in seiner Verbreitung uns immer wieder auf das Phänomen des Ausgestoßenseins zurückführt.“? Guy Stern weiß, was es bedeutet, ausgestoßen zu werden. 1922 in Hildesheim als Günther Stern geboren, wuchs er in einer assimilierten jüdischen Familie auf. 1937 konnte er mit Hilfe eines Onkels in die USA emigrieren. Vergebens versuchte er, seine Familie nachzuholen.* Er meldete sich freiwillig zum Kriegsdienst, wurde im Camp Ritchie in Maryland, einer überwiegend aus Emigranten bestehenden Spezialeinheit des Militärnachrichtendienstes, für Verhöre deutscher Kriegsgefangener und Überläufer ausgebildet und landete im Juni 1944, kurz nach Invasionsbeginn, zusammen mit anderen Ritchie-Boys in der Normandie. Er bezwang seine Angst, selbst in Gefangenschaft zu geraten; zu groß war sein Verlangen, das Hitlerregime zu bekämpfen.’ In einem seiner fast 6.000 Verhöre überführte er den Heeresarzt Dr. Gustav Wilhelm Schübbe, der mit Morphiumspritzen mehr als 25.000 Menschen ums Leben gebracht hatte.‘ Nach Kriegsende erfuhr er, dass seine Eltern und seine beiden Geschwister von den Nazis ermordet worden waren. Wir können nicht ermessen, wie schmerzlich, wie verheerend dieser Verlust war. So mancher wäre daran zerbrochen oder in Verbitterung erstarrt. Guy Sterns Reaktion war eine andere: „Als Überlebender sah ich meine Aufgabe darin, ein nützliches Leben zu führen. Ich fühlte, dass ich mein Leben nicht vergeuden darf.“ Er setzte sein 1940 begonnenes Studium der Romanistik fort, später kam die Germanistik dazu, was einige Menschen in seinem Umfeld irritierte®, war doch Deutsch die Sprache der Mörder. Aber Guy Stern wollte sich seine Liebe zur deutschen Sprache und Literatur nicht nehmen lassen. Er sagte einmal, dass es einer Art Selbstverstümmelung gleichgekommen wäre, sein Talent nicht zu nutzen und damit den Nazi-Machthabern nachträglich einen Gefallen zu tun.? Guy Stern fand seine Bestimmung in der Literaturwissenschaft. Er forschte zu Goethe, zu Lessing und der Aufklärung, war Mitbegriinder der Lessing-Gesellschaft und des Lessing-Jahrbuchs.'° Sein zweites großes Forschungsfeld ist die deutsche Exilliteratur, die er zu einem neuen Studiengang für amerikanische Studenten etablierte. In seinem Aufsatz mit dem Titel German Culture, Jewish Ethics schreibt er: „My expertise on the writers expelled by Hitler and on earlier German-Jewish artists and writers may help rescue them from an oblivion the Nazis had intended for them.“'! Seine Arbeiten zur Erforschung der Exilliteratur finden weltweit hohes Ansehen und haben bewirkt, dass die Werke emigrierter deutscher Schriftsteller wie Walter Mehring, Hertha Pauli oder Kurt Hiller nicht in Vergessenheit gerieten.'? Er kannte Lotte Lenja, Kurt Weills Witwe, übersetzte Brecht und Weill und ist bis heute Vizeprasident der Kurt-Weill Foundation." Aber sein Interesse gilt auch der Nachfolgegeneration, denn diese gehöre, wie Guy Stern sagt, ebenfalls zu den Betroffenen. Ihre Literatur reflektiere oft in hohem Maße das Trauma des Exils'‘, wie er am Beispiel der Romane von Barbara Honigmann nachweist.”’ ,, They have become a successor generation to the exiles by vicariously reliving and fictionally recreating the experiences of their elders.“'° Als Professor für Germanistik lehrte er an verschiedenen amerikanischen Universitäten, ab 1981 an der Wayne State University in Detroit. Gastprofessuren führten ihn immer wieder auch nach Deutschland. Er sieht sich als Brückenbauer zwischen der amerikanischen und der deutschen Kultur.'7 Guy Stern wurde vielfach ausgezeichnet. Anlässlich seines 95. Geburtstags vor zwei Monaten ehrte Frankreich ihn mit der höchsten Auszeichnung des Landes, dem Orden Chevalier de la Legion d’honneur. Und er ist nach wie vor sehr aktiv als Direktor eines Instituts, das dem Holocaust Memorial Center in Detroit angeschlossen ist, dem ersten Shoah-Museum in den USA. Wenn er nicht gerade zu Vorträgen reist, forscht er dort täglich, berät andere Wissenschaftler, übersetzt deutsche Dokumente, spricht vor Schulklassen über den Holocaust. Bei den Jugendlichen will er ein Bewusstsein dafür schaffen, dass sie wachsam sein müssen, um auf erste Anzeichen von Diskriminierung und eingeschränkter Freiheit reagieren zu können. Guy Sterns Appell „Never again“ ist in diesen Zeiten wichtiger denn je." „Alles wandelt sich, nichts vergeht“, heißt es im 15. Buch von Ovids Metamorphosen. Im Wandel liegt die Veränderung, ein Nach-Vorn-Schauen. ‚Nichts vergeht‘ meint das Aufbewahren der Vergangenheit in der Erinnerung. Das Leben und das Werk Guy Sterns verkörpern diesen Gedanken Ovids auf beste Weise. Juni 2017 5