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Elisabeth Malleier Welche Bilder stellen sich ein, wenn man heute von einer Impfaktion hört? Vielleicht jene von Menschen, die im Wartesaal eines Ambulatoriums darauf harren, mit ihrem Namen aufgerufen zu werden und in einem peinlich sauberen Umfeld eine Impfung zu erhalten, die sie vor Krankheit schützen soll. Und selbstverständlich finden derartige Impfaktionen tagsüber statt. Eine andere Art von „Impfaktion“ wurde am 21. April 1945 in Hohenbergbei Lilienfeld in Niederösterreich durchgeführt. Dabei handelte es sich um sechsfachen Mord in den letzten Kriegstagen, ein sogenanntes „Endphaseverbrechen“. Die Opfer waren behinderte Menschen, vier Männer und eine Frau aus Südtirol (darunter ein Ehepaar) und eine 21-jährige behinderte Frau unbekannter Herkunft, die— so steht es in den Gerichtakten - von ihrer Mutter auf der Flucht zurückgelassen worden war. Im Kreis Lilienfeld befand sich seit August 1940 im Haus der Inneren Mission in Salzerbad bei Kleinzell ein sogenanntes SüdtirolerHeim, es beherbergte über 100 behinderte SüdtirolerInnen und Baltendeutsche. Als aus dem Haus 1942 wieder ein Kinderheim wurde, wie bereits in der Vorkriegszeit, wurden die Insassen an andere Orte verlegt. Im Herbst 1943 wurden noch einmal neun Südtiroler in Salzberbad eingewiesen, unter ihnen auch die späteren Mordopfer, wie der Südtiroler Historiker Stefan Lechner in seiner 2016 erschienen beeindruckenden Studie „Die Absiedlung der Schwachen in das „Dritte Reich“. Alte, kranke, pflegebedürftige und behinderte Südtiroler 1939-1945“ schreibt: Als die Rote Armee Anfang April 1945 den Kreis Lilienfeld erreichte, ließ die Wehrmacht aus verteidigungstechnischen Überlegungen das Umsiedlerlager in Salzerbad räumen. Das Pflegepersonal verließ samt den Betreuten fluchtartig das Haus, aus unbekannten Gründen wurden aber fünf oder sechs Südtiroler ohne Betreuung zurückgelassen. Im Heim konnten sie nicht mehr bleiben, und so wurden sie in einem Gasthaus in Kleinzell einquartiert. Der lokale NS-Ortsgruppenleiter beschwerte sich allerdings beim Kreisleiter von Lilienfeld Ludwig Uhl, dass die „Geisteskranken“ der Gemeinde zur Last fielen und man nicht wisse, was man mit ihnen anfangen solle. Die Beschwerde erfolgte in Form eines Briefes, in dem auch das Wort „Euthanasierung“ fiel. Uhl ließ daraufhin den Lilienfelder Amtsarzt Hans Krainer zu sich kommen und ordnete die „Beseitigung“ der Leute an.' Während von der jungen Frau nicht einmal der Name bekannt ist, konnte die Identität der fünf SüdtirolerInnen im Lauf des Volksgerichtsprozesses, der nach Kriegsende in Wien stattfand, geklärt werden. Die fünf Personen waren zwischen 46 und 79 Jahre alt und kamen aus verschiedenen Südtiroler Dörfern.” In den Gerichtsakten ist seitens der Zeugenaussagen u.a. die Rede von „Idioten“, „Irotteln“ und „Kretinen“. Der Arzt, Dr. Hans Krainer, hatte sich nach eigener Aussage neun Tage lang geweigert, den Mordauftrag durchzuführen, und eine Einlieferung in die Heil- und Pflegeanstalt Mauer-Öhling vorgeschlagen, was der Kreisleiter ablehnte. Bei einer Begutachtung in Kleinzell, wenige Tage vor dem Mord, kam der Arzt zum Schluss, dass es sich bei den SüdtirolerInnen um „zwei taubstumme Idioten und drei altersblödsinnige Personen“ handle. Wenige Tage vor ihrem Tod wurde die Gruppe von Salzerbad bei Kleinzell nach Hohenberg verlegt und im Nebengebäude einer Bäckerei untergebracht. Diese Verlegung kann schon als Vorbereitung der Mordaktion betrachtet werden. Bei der Zeugeneinvernahme schilderte die Ehefrau des Arztes, in der Absicht ihren Mann zu entlasten, die Zwangslage ihres Mannes. Er sei gegen Mitternacht von schwer bewaffneten SS-Leuten nach Hohenberg geführt worden und habe daher unter „unwiderstehlichem Zwang“ gehandelt. Die Frage, die sich beim Durchlesen der Akten heute stellt, ist: Waren die bewaffneten SS-Männer tatsächlich dazu da, den Arzt zu seiner Mordtat zu zwingen oder cher dazu, ihn vor einer eventuellen Gegenwehr der zu Ermordenden zu schützen? Zu den SS-Männern kamen in Hohenberg noch drei Volkssturmmänner sowie Ortsgruppenleiter Franz Jaschke hinzu. Als der Trupp bei der Unterkunft ankam, war die Tür verschlossen, die dort Untergebrachten waren bereits zu Bett gegangen. Die verschlossene Tür wurde von den Volkssturmmännern gewaltsam aufgebrochen und die Nazis drangen ins Haus ein. Mit der Erklärung, dass es sich um eine Impfung handle, wurde den Menschen dann in Anwesenheit bewaffneter Männer die Spritze mit je 0,2 g ,‚Morphium für Veterinärgebrauch‘ subcutan verabreicht. Wie ging diese „Verabreichung“ vor sich? Wehrten sich die Menschen, schrien sie? Vielleicht fingen sie an zu beten. Vermutlich wussten sie, was mit ihnen geschah, auch wenn Zeugenaussagen anderes berichten: Nach einem Zeugen prahlte Ortsgruppenleiter Franz Jaschke — er nahm sich bald darauf das Leben — folgendermaßen nach der Tat: „Jetzt habe ich eine schwere Arbeit gehabt [...] Wir haben die Trotteln [1] durch Injektionen hinüberbefördert unter Vorspiegelung von Impfungen, wodurch die Idioten keinen Widerstand leisteten. Da die dicke Frau trotz zehnfacher Dosis nicht tot war, wollte ich sie erschießen. Ich habe es mir aber doch wieder überlegt. Dr. Krainer war bei jeder Injektion so aufgeregt, dass er gezittert hat. Zuerst wollten wir eine Holzgasvergiftung vortäuschen und da dies nicht möglich war, stellten wir den Rest einer Konservendose auf den Tisch, um eine Fleischvergiftung vorzutäuschen. Die drei Volkssturmleute bekamen für ihre Arbeit mitsammen eine Flasche Schnaps.” Der Arzt rechtfertigte seine Tat u.a. damit, dass die Menschen, wenn er sich geweigert hätte, ihnen die Spritze zu verabreichen, von den ihn begleitenden Männern erschlagen worden wären. Als der örtliche Totengräber am Tag danach sechs Leichen abholen sollte, waren zwei der sechs Personen noch am Leben. Sie starben erst am Tag nach der Morphiumspritze unter Krämpfen und Erbrechen.* Da man den Mord vertuschen wollte, lautete die Todesursache aufden vom Gemeindearzt von Hohenberg Dr. Walter Ernst ausgestellten Totenscheinen auf Lebensmittel- und Kohlenmonoxydvergiftung. Nicht alle der damals Beteiligten wurden nach Kriegsende verurteilt.” Ortsgruppenleiter Franz Jaschke verübte im Mai 1945 Selbstmord, ebenso einer der drei Volkssturmmänner und die NS-Schwester, Berta Fischer, eine Mitarbeiterin von Krainer. Sie tötete sich im Sommer 1946 in Mondsee mit Veronal. Dr. Hans Krainer war bei Kriegsende nach St. Lorenzen im Lesachtal geflüchtet und arbeitete dort bis zu seiner Verhaftung Ende November 1945 in seinem Beruf. Krainers Eltern, überzeugte Juni 2017 7