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Robert Streibel Louis Mahrers geliehenes Leben „Der blaue Dunst liegt über dem Ibar“, wüsste man nicht, dass der Schreiber eine Wehrmachtsunform trägt als er am Bahnhof in Kraljevo ankommt, man könnte an eine interessante Reisebeschreibung über den Balkan denken. Als der Kremser Lehrer Louis Mahrer diese Zeilen über seine Zeit in Kralejvo und Vrancka Banja schrieb, war der Zweite Weltkrieg erst ein Jahr zu Ende. Die Geschichte „Bora“ sollte ein Denkmal für seinen Freund werden, der im Kugelhagel des Erschießungskommandos am 28. August 1944 auf einer Wiese im schönsten Kurorts Serbiens den Tod gefunden hatte. Der blaue Dunst ist geblieben, täglich in Kraljevo und auch in Vrnjatka Banja, von Romantik keine Spur, auch im Jahre 2016 nicht. Der Dunst verschwindet höchst selten und ist ein Smog aus Kohleheizungen und Autoabgasen. Die Suche nach den Orten des Jahres 1943 und 1944 in Serbien stößt vor Ort auf großes Interesse. Wolfgang Mahrer, der Sohn von Louis Mahrer, hatte die Reise vor zwei Jahren angetreten und dem Museumsdirektor Dragan Draskovie von der Geschichte seines Vaters erzählt. Sofort hat er einer professionellen Übersetzerin, der Kinderbuchautorin Gordan Timotijevic, eine Übersetzung des Textes in Auftrag gegeben. Der späte Ruhm einer Erzählung, eine Neuauflage in Deutsch und eine Übersetzung ins Serbische. Mit Österreich verbinden die Bewohner Kraljevos nicht viel Gutes, denn Österreicher waren es, die an der Erschießung von „1.736 Männern und 19 kommunistische Frauen“ im Oktober 1941 beteiligt waren, eines der frühen Massaker nach dem deutschen Überfall auf Serbien. Die Toten liegen auf einem Areal neben dem Bahnhof, unterschiedlich große abgebrochene Säulen markieren den Platz: Eine große Wunde im Stadtbild. Wer die Stadt betritt hat die Toten im Rücken, damals wie heute. In der Zwischenzeit sind viele andere Wunden hinzugekommen, aufgelassene Fabriken sind überall anzutreffen und noch dazu eine marode Infrastruktur. Wer Kraljevo liebt, wird auf eine harte Probe gestellt. Vojkan Trifunie liebt seine Stadt und ist so etwas wie ein anarchistischer Patriot. Eine Tätowierung an seinem Fuß, eine Zeile aus einem traditionellen Volkslied, in dem auch der Ibar eine Rolle spielt: „Stani, stani Ibar vodo“. Vojkan ist von Belgrad nach Kraljevo zurückgekehrt, dort war es ihm einfach zu hektisch. Er arbeitet als Geschichtslehrer in der Grundschule der Stadt, in der schulfreien Zeit tourt er mit einer Punkband durch Europa. Die Toten sind immer geblieben und die Halle, in denen die Opfer gefangen gehalten wurden, ist noch in der NS-Zeit abgebaut und nach Wiener Neustadt gebracht worden. Die sogenannte „Serbenhalle“ steht heute leer, ein geraubter serbischer Mythos, der vielleicht einmal zurückgegeben wird, träumt der Museumsdirektor. Vojkan träumt diesen Traum weiter. „Vielleicht bekommen wir mit der Halle auch noch ein Industriewerk dazu.“ Die Geschichte des Wehrmachtssoldaten von Luis Mahrer aus dem Jahr 1947 hat ihn fasziniert, denn hier fand sich plötzlich ein anderes Bild der Deutschen Wehrmacht. Immer wieder sei davon berichtet worden, dass eben nicht alle Soldaten Mörder gewesen seien und manche sich den Befehlen widersetzt hätten. „Aber einen Beweis dafür hatten wir nicht“, so Vojkan. „Die Geschichte von ‚Bora‘ erlaubt uns einen anderen Blick auf unsere eigene Geschichte.“ Louis Mahrer und Gerhard Chmiel waren Funkaufklärer und übermittelten den Partisanen die deutschen Funkcodes. Mehr als 20 Personen wurden im Sommer 1944 verhaftet. Louis Mahrer wurde entlassen, sein Freund wurde hingerichtet. Die Bürde, überlebt zu haben, trug Louis Mahrer sein ganzes Leben mit sich. Die knapp 140-seitige Erzählung erschien 1947 und war wohl eine der ersten Geschichten, die ein anderes Bild der deutschen Wehrmacht gezeichnet haben. Wenige Monate nach dem Erscheinen des Büchleins kam es zum Bruch zwischen Tito und Stalin. Keine gute Zeit für einen österreichischen Kommunisten, eine Geschichte über Kontakte zu den jugoslawischen Partisanen zu schreiben. Bei der Suche nach den titoistischen Agenten geriet Mahrer nicht ins Visier, andere Freunde aus seiner Einheit verloren ihren Job, so zum Beispiel der in der sowjetischen Zone in Deutschland lebende und bei der Zeitung tätige Gerhard Brattke. Brattke war ebenfalls unter den Verhafteten von Vrnjacka Banja. Ein Grofteil der Auflage des Biichleins landete im Keller von Louis Mahrer, auch die Verantwortlichen der KPO Krems waren nicht besonders angetan, die Geschichte zu verbreiten, derzufolge vielleicht ein Kremser mitgeholfen hatte, Tito das Leben zu retten. Denn als die Wehrmacht im Mai 1944 ihre Aktion „Rösselsprung“ startete, hatten die Partisanen bereits die Funkcodes erhalten und den Funkverkehr eingestellt. In den militärischen Berichten über die Bekämpfung der Partisanen in Serbien wird immer wieder auf die Bedeutung der Funkaufklärung hingewiesen und vermerkt, Juni 2017 9