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es tatsächlich noch. Das provisorische Gefängnis der deutschen Wehrmacht, ein aufgelassenes Elektrizitätswerk, befindet sich neben einer aufgelassenen Autobusgarage. An zehn Orten lesen wir Passagen aus der Erzählung von Luis Mahrer und konfrontieren die Geschichte mit der Realität heute. Material für einen Dokumentarfilm und ein zweites Gedenken für Gerhard Chmiel. Im Zuge der Recherche für die Neuauflage der Erzählung konnten zumindest auch Anhaltspunkte für die Lebensgeschichte des Ermordeten gefunden werden, denn Gerhard Chmiel war nicht ein Landsmann, wie Luis Mahrer schreibt, sondern stammte aus Jägerndorf im Sudetenland. Ein Sudentendeutscher als Widerstandskämpfer, das wollte nicht ins Bild passen, nachdem die Kollektivschuld der Vertreibung diese Deutschen getroffen hatte. Bis heute hat Gerhard Chmiel kein regelrechtes Grab. Mit der Erzählung und dem Denkmal bekommt er die Ehrung, die ihm zusteht. Wolfgang Mahrer, der Sohn ist stolz, dass er mithelfen konnte, dass die Erzählung nun auch ins Serbische übersetzt wurde: Mein Vater hat immer wieder davon gesprochen, noch einmal zu den Orten zu fahren. Als ich maturiert habe 1968, sind wir tatsächlich Erich Hackl Der ewige Traum von der Revolution mit meiner Schwester und ihm nach Jugoslawien gefahren, aber bis Kraljevo und Vrnjacka Banja hat er es nicht geschafft, er hat sich einfach gescheut, genauso wenig wie er es übers Herz gebracht hat, die Muiter von Gerhard Chmiel aufzusuchen. Ich habe überlebt und ihr Sohn ist erschossen worden. Manchmal hat er vom geliehenen Leben gesprochen. In der Erzählung „Bora“ bekommt Gerhard Chmiel die autobiographischen Züge von Luis Mahrer. Louis Mahrer: Bora. Erzählung. Mit einem historischen Kommentar von Robert Streibel. Weitra: Bibliothek der Provinz 2017. 215 S. € 24,(Erstveröffentlichung 1947 im kommissarisch verwalteten Wachau Verlag, Krems.) Luis Mahrer: Bora. Ins Serbische übersetzt von Gordana Timotijevic. Mit einem Vorwort von Ljubodrag P Ristic. Kraljevo: Narodni Muzej 2016. 138 5. In der Nacht auf den 23. Dezember letzten Jahres, kurz nach seinem 88. Geburtstag, ist in Cördoba der Schriftsteller Andres Rivera gestorben, der eigentlich Marcos Ribak hieß und als einziges Kind jüdischer Einwanderer aus Osteuropa — der Vater stammte aus Polen, die Mutter aus der Ukraine - in Buenos Aires aufgewachsen war. Seine früheste Erinnerung reicht in eine Zeit zurück, in der das jüdische Bevölkerungssegment Argentiniens tief gespalten war, auch wenn es sich in der sozialen Zusammensetzung nicht von den beiden größten Immigrantengruppen, Italienern und Spaniern, unterschied: Als er drei oder vier Jahre alt war, trug sein Vater einem frommen und in seiner Frömmigkeit unnachgiebigen Nachbarn ein paar Ohrfeigen an, weil dieser den kleinen Marcos unbedingt beschneiden lassen wollte. Damals, so Rivera, waren die meisten argentinischen Juden klassenbewußte Arbeiter, die in ihren Herkunftsländern nicht nur Armut und Antisemitismus, sondern auch den Glauben ihrer Vorfahren zurückgelassen hatten und wie seine Eltern der Ansicht waren, daß man das Salz der Erde überall finden könne, außer in einer Kirche oder Synagoge. „Heute, so wird mir erzählt, sind es die Enkelkinder der Einwanderer von damals, die in die Synagoge rennen, die religiösen Gebote einhalten und ihre Söhne beschneiden lassen. Diese ideologische Regression der jüdischen Gemeinschaft ist eine Folge des Verlusts an politischer Gewißheit: Der Kommunismus ist, nicht nur für sie, unvorstellbar geworden. So bleibt ihnen nur Israel, als das verheißene Land der Vorfahren.“ Fast alle Romane und Erzählungen, die Andres Rivera seit Mitte der fünfziger Jahre - aber mit einer langen Unterbrechung zwischen 1972 und 1982, die vor allem dem Terror der Militärjunta geschuldet war - veröffentlicht hat, sind von persönlichem Starrsinn, politischer Gewalt, gewerkschaftlichem Kampf und revolutionärer Sehnsucht durchdrungen. Dieses Spannungsverhältnis hatte er von klein auf mitbekommen, es prägte auch seine Schulzeit, die Jahre, in denen er als Seidenweber, später als eine Art Buchhalter, schließlich als Redakteur der kommunistischen Parteizeitung — zuerst, in der Illegalität, hieß sie Nuestra Palabra, dann La Hora — tätig war. Einer seiner Kollegen bei La Hora war der Dichter Juan Gelman, mit dem ihn nicht nur die osteuropäisch-jüdische Herkunft, sondern auch das Bedürfnis verband, den eigenen Erfahrungen, und denen der Vorfahren, literarische Gestalt zu geben. Aufgrund der wechselvollen Geschichte Argentiniens, in der Kommunisten immer wieder verfolgt und ihre Organisationen verboten wurden, stand für ihn außer Frage, daß er seine journalistischen und literarischen Arbeiten unter einem Pseudonym veröffentlichen mußte: Andres, nach der Straße Andres Lamas, in der er damals wohnte, und Rivera nach dem Kolumbianer Jose Eustasio Rivera, dem Verfasser des naturalistischen Romans La Vordgine („Der Strudel“), der ihn tief beeindruckt hatte. Juni 2017 11