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Seine wirklichen Vorbilder wurden freilich Autoren, die den Parteifunktionären wegen ihrer politischen Haltung verwerflich erschienen, nämlich William Faulkner und Jorge Luis Borges. An Borges schätzte er den sparsamen, deutungsfreien Gebrauch von Adjektiven, an Faulkner die Fähigkeit, die Dramatik einer Geschichte nicht zu behaupten, sondern durch präzise Beschreibung von Gesten und Verrichtungen zu erfassen. Konsequenter noch als zwei ihm wesensverwandte Landsleute, Rodolfo Walsh und Antonio Dal Masetto, vermied er Phrasen, Metaphern und Hypotaxen, benützte Personalpronomina nur selten und verstärkte durch den repetitiven Gebrauch von Eigennamen und Schlüsselsätzen bei den Lesern das Gefühl der Unmittelbarkeit, Ausweglosigkeit und existentiellen Wucht des jeweils geschilderten Konflikts. Je älter er wurde, desto kürzer waren seine Romane; die meisten von ihnen umfassen, in der Druckfassung, nicht mehr als achtzig, neunzig großzügig umbrochene Seiten. Ich hielt und halte es immer noch für einen Skandal, daß bis auf die Novelle El farmer, von Peter Tremp im kurzlebigen Lateinamerika-Verlag herausgebracht, kein einziges Buch von ihm auf deutsch erschienen ist. Das ist auch deshalb schade, weil Rivera sich über die Konvention hinweggesetzt hat, jüdische Kultur entweder im Schtetl oder in bürgerlichen Salons zu verorten. Ihn interessierten nur Juden, und auch Gojim, die bereit sind, in die Ereignisse einzugreifen, bevor diese Geschichte werden, und dafür ihr Leben riskieren. Noch in seiner letzten, inhaltlich bereits zerrissenen, aus vielen Erinnerungssplittern bestehenden Erzählung „Kadish“ hat er ihnen, und damit auch sich selbst, ein Denkmal gesetzt. Riveras Interesse an Literatur hatte schon früh sein Onkel Felipe Schatz geweckt, der das Kunststück zuwege brachte, zweimal wegen des gleichen Delikts — Trotzkismus — aus der Kommunistischen Partei Argentiniens ausgeschlossen zu werden. Auch Rivera traf, in Zusammenhang mit dem chinesisch-sowjetischen Zerwürfnis Mitte der sechziger Jahre, der Bannfluch der Partei. Damals wurden mehrere seiner Freunde, unter ihnen Gelman, wegen prochinesischer Tendenzen ausgeschlossen. Weil er diesen eine Erzählung gewidmet hatte, wurde Rivera gleich mit ausgeschlossen und verstärkte von da an, wie er später sagen sollte, die nicht gerade kleine Riege der Verstoßenen. Tatsächlich war ihm die Kommunistische Partei mit ihrem den jeweiligen Weisungen aus Moskau entsprechenden Zickzackkurs längst nicht mehr geheuer. Der Aufstand von Cördoba 1969, der als Cordobazo in die Geschichte eingegangen ist, und dann nochmals die von den unabhängigen Gewerkschaften Sitrac und Sitram geführten Arbeitskämpfe in derselben Stadt, von 1970 bis 1974, ereigneten sich ohne Mitwirkung und gegen den Willen der Parteiführung. Rivera aber, und seine Frau Susana Fiorito, waren daran beteiligt und überlebten die nachfolgende Repression nur durch Zufall: „Wären wir in Cördoba geblieben, gäbe es uns nicht mehr. Unsere Telefonnummer stand in allen Notizbüchern der Verfolgten. Susana fuhr einmal pro Woche von Buenos Aires nach Cördoba, um den Frauen der verhafteten Gewerkschaftern Geld zu bringen. Diese Männer sind heute vergessen, alt, müde.“ Auch das ist ein Thema, das sich durch Riveras Gesamtwerk zieht: wie es um die vergessenen, kranken und alt gewordenen Menschen (fast immer sind es bei ihm Manner) steht, die einst dafür gekämpft haben, das Unrecht aus der Welt zu schaffen. Davon handelt sein berühmtester Roman La revolucién es un sueno eterno („Die Revolution ist ein ewiger Traum“), in dem er dem großen Redner der Mairevolution von 1810, dem Anwalt Juan Jose Castelli, das Wort erteilt hat. Im letzten Satz wirft Castelli die 12 ZWISCHENWELT unbequeme, verzweifelte und in der Prognose doch hoffnungsvolle Frage auf, die den Schriftsteller bis zuletzt beschäftigt hat: „Unter so vielen unbeantworteten Fragen wird eine beantwortet werden: Welche Revolution wird die Leiden der Menschen aufwiegen?“ Als ich vor sechzehn Jahren eingeladen wurde, im GoetheInstitut von Cördoba einen Vortrag zu halten, fragte mich der damalige Institutsleiter, wen er davon benachrichtigen sollte. Ich wußte, daß Susana Fiorito und Andres Rivera seit 1995 im Arbeiterviertel Bella Vista eine Volksbibliothek führten, und nannte ihre Namen. Rivera erschien nicht nur zu meinem Vortrag, sondern ließ es sich zu meinem Erstaunen, ja meiner Bestürzung nicht nehmen, tags darauf an einer Schreibwerkstatt teilzunehmen, die für Aktivisten der Organisation HIJOS bestimmt war, jungen Frauen und Männern also, die als Kinder Opfer der Militärjunta geworden waren: Wenn schon, dann wäre es angemessener gewesen, er hätte die Werkstatt geleitet und ich mich, wie die Schar Jugendlicher, dort an einem Prosastück versucht. Aber die Erzählung schrieb er, es ging um „Das Verstummen meines Vaters“, wieder griff er dabei, auf einer knappen Seite, sein zentrales Thema auf: was, und wie, von den Kämpfen der Vergangenheit auf die Gegenwart gekommen ist. Auch an den Diskussionen über die Texte beteiligte er sich. Ich erinnere mich an ein Mädchen namens Liliana, das sich, schreibend, einer Episode versicherte, in der seine Mutter, eine ehemalige Guerrillakämpferin, in die Schule kommt und von einem Mitschüler, in den es heimlich verliebt ist, mit dem Ruf „Aufpassen, die Montonera schmeißt gleich eine Bombe!“ empfangen wird. Lilianas Zerrissenheit, zwischen der Schwärmerei für den Jungen und der Liebe zur Mutter. Rivera, der zeitlebens ein erbitterter Gegner des Peronismus war, fand die literarische Reminiszenz schon deshalb schlecht, weil eine Montonera darin gut wegkam. Die Autorin, der es zum ersten Mal gelungen war, an dieses schmerzhafte Erlebnis zu rühren, brach in Tränen aus. Aber so war er, der große, der am meisten politische, geschichtsbewußte Schriftsteller seines Landes, der hoch bejahrt und doch zu früh verstorben ist: rauh, barsch, strikt, mürrisch. Ich habe ihn, auch bei späteren Gelegenheiten, nie lächeln, gar lachen gesehen. Klein und stämmig, die Haare kurzgeschoren, zwischen den Lippen eine Zigarette, vor sich ein Glas Whisky oder eine Flasche Wein, so wie sein Alter ego Arturo Reedson in den späten Romanen. Nur wenn Rivera an seine Kindheit rührte, von seiner Mutter Zulema erzählte, die samt ihren Geschwistern das große Pogrom von Proskurov nur deshalb überlebt hat, weil die Großmutter ihr befahl, die Federbetten mit Kot zu beschmieren, und den eindringenden Kosaken zurief, die Kinder hätten alle Typhus; von Zulema Schatz also, die in der argentinischen Hauptstadt in einer Süßwarenfabrik arbeitete, sich in ihrer Freizeit um mittellose Kranke kümmerte und eines Tages Moises Ribak kennenlernte, den Sohn eines Rabbiners, der in der polnischen Kleinstadt Lomza das Schneiderhandwerk erlernt hatte und in Buenos Aires Sekretär der Textilarbeitergewerkschaft war — wenn er erzählte, wie zärtlich und gut und in ihrer Not doch zuversichtlich die beiden waren, dann wurde sein Gesicht sanft und weich.