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Dem Knaben fehlte es nicht an Selbstbewusstsein. Als Neunjähriger zeigte er sich gegenüber seiner Großmutter überzeugt, einmal berühmt zu werden, und meinte spitzbübisch: „Eines Tages werde ich mit Königen speisen.“ Und tatsächlich, etliche Jahre später schaute die Königin-Mutter in Großbritannien gerne durchs Fenster in sein Studio, wenn er Persönlichkeiten der britischen Monarchie porträtierte. Oskar Neumanns Begabung zeigte sich früh. Vorerst begann er in der naheliegenden Ziegelei in Osijek zu modellieren und stellte schon während seiner Schulzeit 1923 und 1924 seine Keramikbüsten und -figuren aus. Nachdem er in Osijek maturiert hatte, ermutigte ihn der kroatische Bildhauer Ivan Mestrovig, in Paris zu studieren, er aber entschied sich für Wien. An der Akademie der bildenden Künste in Wien wurde er nicht aufgenommen, doch in der Wiener Metallgießerei von Rudolf Spitz (1885 — 1949) fand er 1925-1926 einen Platz für seine Arbeit. Spitz war ein angeheirateter Onkel Oskars. Nemons Mutter Eugenie hatte vier Schwestern und drei Brüder. Ihre jüngste Schwester Julia Adler war mit dem Wiener GießereiBesitzer Rudolf „Rudy“ Spitz (Sohn von Moritz Spitz und Rosalia Sophie Reiser) verehelicht und überlebte als Einzige der fünf Adler-Töchter den Holocaust. Rudy und Julia Spitz lebten nach dem Zweiten Weltkrieg in New York. Nemons Tochter Aurelia Young, die in Wien mehrmals diesen früheren Familienbetrieb ausfindig machen wollte, erfuhr erst im Februar 2017 durch meine Recherchen im Wiener Stadt- und Landesarchiv, dass sich die Metallgießerei Spitz Moritz & Sohn (Rudolf) in der Märzstraße Nr. 130 (damals im 13., heute im 14. Bezirk) befunden hatte. Diese Adresse war auch der Wohnsitz der Familie Spitz. In seiner Wiener Zeit porträtierte Oskar Neumann (Nemon) einige Tenöre, u.a. Richard Tauber. Damals lernte er durch Paul Federn Sigmund Freud kennen, den er schr verehrte. Nach einigen Anlaufschwierigkeiten durfte er eine Büste von Freud schaffen. Es entwickelte sich eine Freundschaft zwischen dem Bildhauer und dem Begründer der Psychoanalyse. Auch einige Schüler Freuds wurden von Oscar Nemon porträtiert. Es entstanden u.a. Skulpturen von Sandor Ferenczi, Ernest Jones, Paul Federn, Rene Laforgue und Prinzessin Marie Bonaparte. Er schuf sogar eine Statue ihres Hundes Topsy. Auch Marie Bonaparte (1882 — 1962), verheiratet mit Prinz Georg von Griechenland, war französische Psychoanalytikerin, Autorin, Freuds Patientin und Übersetzerin seiner Werke ins Französische. Bei der Flucht Freuds und seiner Familie aus Österreich nach dem „Anschluss“ spielte sie eine wichtige Rolle. Arnold Schönbergs Ratschlag im Jahre 1925, sich im Ausland weiter zu entwickeln, befolgte der damals junge Künstler Oskar Neumann ein Jahr später. Nach einem kurzen Aufenthalt in Paris zog er nach Brüssel, um an der Académie royale des Beaux-Arts zu studieren. Dort wurde Nemon für eine Skulptur mit einer Goldmedaille ausgezeichnet. Brüssel blieb seine neue Heimat bis 1939. In den 1930er-Jahren teilte er sich ein Haus mit dem Maler Rene Magritte. 1931 kehrte er kurz nach Wien zurück, um eine Büste Freuds anlässlich dessen 75. Geburtstages zu schaffen; einige Jahre später schuf er auch eine Statue. Als ein häufig reisender Künstler fuhr er zeitweise in seine alte Heimatstadt Osijek. Dort eröffnete er im Jahr der Ermordung von Pavle Radi¢, Duro Basariéek und Stjepan Radi¢ sein Denkmal „Juniopfer“, welches an ihre Ermordung am 20. Juni 1928 in Belgrad erinnerte. Alle drei waren kroatische Churchill-Kupferbüste von Oscar Nemon, Churchill War Rooms, Clive Steps, King Charles Street, London. Foto: Sonja Frank, 2016 Abgeordnete der Bauernpartei des jugoslawischen Parlaments und wurden vom montenegrinischen Serben Punia Raci¢ erschossen. Später präsentierte er eine Einzelausstellung von Porträtköpfen an der Akademie in Brüssel, darunter die Büste von Freud. Er porträtierte König Albert I., Königin Astrid von Belgien, Emile Vandervelde und August Vermeylen. In der Galerie Louis Manteau stellte er im Dezember 1934 und Januar 1939 aus. Angesichts der Bedrohung durch Nazi-Deutschland flüchtete er 1939 aus Belgien nach England. Er ließ seine über ein Jahrzehnt geschaffenen Arbeiten in seinem Studio zurück, darunter ein sechs Meter großes Tonmodell „Le Pont“. Die meisten seiner Familienmitglieder entkamen dem Machtbereich der Nationalsozialisten nicht mehr. Die Großmutter Johanna Adler und der Bruder Desider Neumann wurden 1942 im KZ Auschwitz ermordet. Die Nachricht, dass seine Mutter Eugenie sowie nahezu seine ganze Großfamilie dem Massenmord der Nazis zum Opfer gefallen waren, traf Oscar Nemon heftig. Seine Schwester Bella Neumann (geb. 1904 in Osijek) kam nach Bosnien und konnte von Dr. Ante Vuleti¢ gerettet werden. Vuleti¢ forcierte während des Zweiten Weltkrieges eine Kampagne gegen Syphilis in Bosnien, um jüdisches medizinisches Personal vor einer sofortigen Deportation in die KZs zu retten. Bella gehörte diesem Personal an. Bald nach dem Krieg übersiedelte sie mit Hilfe ihres Bruders nach Brüssel, wo sie 1995 verstarb. In London lernte Nemon bei einer Party von Sigmund Freuds Biographen Ernest Jones seine zukünftige Frau Patricia VilliersStuart (1919 — 1998), Tochter des Oberstleutnants Patrick VilliersStuart und Constance Marys (geb. Fielden, 1877 — 1966, Autorin und Aquarellistin) kennen, und Patricia verliebte sich unsterblich in ihn. Trotz seiner beruflichen Erfolge durfte Nemon niemals das Haus seiner adeligen und wohlhabenden Schwiegereltern betreten — sie wollten ihn sogar internieren lassen. Dies alles geschah zu einem Zeitpunkt, als viele jüdische Familien eine Fluchtmöglichkeit suchten. Die Bande zwischen Patricia Villiers-Stuart und Oscar Nemon hielten jedoch fest; Patricias Eltern schafften es nicht, sie zu lösen. Patricia und Oscar heirateten aber erst 1944, weil beide befürchteten, dass Kinder eines jüdischen Vaters von den Nazis ermordet werden könnten, sollten diese in England einmarschieren, was 1941 noch möglich schien, als das erste Kind geboren wurde. Sie bekamen einen Sohn und zwei Töchter, Falcon, Aurelia und Electra, und lebten in Oxford. Falcon Stuart (1941 — 2002) war als Juni 2017 25