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Verunsicherung, Müdigkeit und Verzweiflung zu schulden war. Wittlin versicherte jedenfalls mehrfach, sie wolle jegliche Arbeit annehmen, die ihrer beruflichen Spezialisierung — Kunst, Kunstgeschichte, Anthropologie — entspräche.7 In „Exiles on the Roads of Europe“, einem längeren Beitrag, der am 18. Jänner 1941 in einer Tageszeitung der nordenglischen Stadt Hull“ erscheint, nimmt Wittlin zwar nicht direkt, aber dennoch konkret — nämlich mit den im Artikel mehrfach verwendeten Begriffen ‚Lebensraum‘, ‚Neue Ordnung‘ — Bezug auf Adolf Hitlers Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939 und die durch das NS-Regime erfolgten Besetzungen und Vertreibungen (Tschechoslowakei, Polen). Am Beginn dieses Artikels steht die Geschichte eines einfachen polnischen Bauern, der seine Weigerung, Haus und Hof zu verlassen, mit dem Leben zu bezahlen hatte. Dann folgen Schilderungen von Gewalt und Brandschatzung, bewegende Szenen von nutzlosem Widerstand und verzweifelter Flucht sowie kurze Erläuterungen zu NS-“Strafmaßnahmen“ wie Zwangsarbeit, Konzentrationslager, Sklavenarbeit. Der Artikel endet mit einem Aufruf Wittlins, nicht nur zu beten, sondern sich rasch für die Freilassung der ‚slaves on the roads of Europe‘ und das Ende von Hitlers ,cursed ,, New Order“ zu engagieren. In dem in London zu diesem Zeitpunkt neuen, deutschsprachigen Exilblatt Die Zeitung veröffentlichte Wittlin ebenfalls einen Beitrag. Am 16. April 1941 erschien ihr Artikel „In der Wüste des Hasses. Nazi-Eindringlinge leiden unter Zivil-Nervenkrieg“.“” In vier Abschnitten (Wenn die Eindringlinge Besitz ergreifen; Unerklärliche Unglücksfälle; Höflichkeit im Wege der Verordnung; Gestapo kann ihn nicht unterdrücken) schildert Wittlin verschiedene Alltagsgeschehnisse, die das Verhältnis der Besatzungsmacht zur Bevölkerung der unterworfenen Länder charakterisieren. Sie skizziert die organisierte Bevorzugung der deutschen Besatzer, des ‚Herrenvolks‘, und die Ausbeutung der Ortsansässigen durch das NS-Regime. In kurzen Szenen führt Wittlin vor Augen, wie solidarisch und erfinderisch die geknechteten Menschen in Norwegen, Holland, Frankreich, Belgien auf die auferlegten Qualen und Demütigungen reagieren. Die Verachtung, welcher die Besatzer in unterschiedlichsten Situationen begegnen, und der von den Nazis nicht zu verhindernde zivile Widerstand würden, so Wittlin in der abschließenden Bemerkung, hoffentlich die Nerven der Unterdrücker zermürben und eventuell doch noch zu deren besserer Einsicht führen. Dieser Beitrag für Die Zeitung, ähnlich wie jener in der Aull Daily Mail, erschöpft sich bald in der Auflistung anekdotischer Beschreibungen, einzelner, wenn auch treffend gewählter Vorkommnisse der NS-Besatzungs- und Vernichtungspolitik. Beiden Artikeln fehlt auch eine durchgehende und tragfähige argumentative Behandlung einer Leitidee. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass Wittlin sich nicht wirklich mit dieser Arbeit identifizierte, dass ihre erste Sprache Polnisch war, dass sie zum Zeitpunkt des Erscheinens dieser Artikel schon mehr als drei Jahre in England lebte — zuletzt ausgebombt in London — und dass die Zeitungsbeiträge unter Kriegsbedingungen geschrieben, vermutlich in London, bzw. eventuell in Hull gesetzt wurden. Mit den Themen ihrer früheren journalistischen Tätigkeit, mit Kunst in Kriegszeiten, Kunstraub, Kunst als Mittel, Macht zu demonstrieren, die in den Auktionsberichten von 1928 anklingen, und die sie ausführlich in ihrer Biografie der Königin Isabella behandelt hatte, beschäftigte sich Wittlin auch wiederum in England. Im Mai 1941 erschien der Essay ‚Verres, Plunderer and Art Collector‘ in The Contemporary Review, einer angesehenen kultur- und zeitgeschichtlich ausgerichteten Schriftenreihe‘, und 1946 der Beitrag ‚Some Notes on the Plunder of Art Treasures in Wars of the Past‘, in Apollo, einem anspruchsvollen Londoner Kunst- und Kulturmagazin.”! Der Artikel ‚Verres, Plunderer and Art Collector‘ ist eigentlich eine unverhohlene Beschreibung des NS-Kunstraubs und eine Anklage gegen NS-Praktiken. Mit Hilfe der historischen Figur des römischen Statthalters Verres und den Schilderungen seines berüchtigten und grausamen Vorgehens führt Wittlin einige der Mechanismen vor, die eingesetzt werden können, um Menschen und Systeme zu korrumpieren. In der Person des Machthabers Verres vereinen sich Opportunismus, Habgier, Unmenschlichkeit und Menschenverachtung mit ostentativ zur Schau getragenem kulturellem Raffinement und verfeinerter Ästhetik. Die Beschreibung der geschichtlich verbürgten Situation ‚im alten Rom‘ verweist (zwar nicht direkt angesprochen, aber offensichtlich) auf (1940/41) zeitgenössisches Geschehen. Wittlin stellt der Demagogie, die unter dem Deckmantel kultureller Überlegenheit Grausamkeit und Gewalt erlaube (in ihrer Darstellung entspricht dies einer römischen Tradition militärisch-strategischer Rücksichtslosigkeit, übertüncht mit elitär-demonstrativem Kunstsinn), die Möglichkeit und Utopie eines demokratischen und aufklärerischen Zugangs entgegen (kt. Wittlin, der griechischen Tradition entsprechend, mit quasi öffentlichem, ritualisiertem, aber doch für alle zugänglichem Kunstbesitz und Kunstgenuss). Sie hatte sich, wie erwähnt, mit diesen Themen ja mehrfach und intensiv befasst, so auch schon in den beiden historischen Biographien, Isabella und Abdul Hamid. Ganz ähnlich wird von Wittlin in „Some Notes on the Plunder of Art Ireasures in Wars of the Past“ argumentiert: In einer Parforce-Tour schildert sie, wie im Lauf der etwa 2000-jährigen europäischen Geschichte des Kunstsammelns wechselnder Kunstbesitz jeweils mit Kunstraub, Kriegs- und Beutezügen verknüpft waren. Im Typoskript lautet der letzte Satz lakonisch: „For years to come art sales in London were to deal with objects sent up for auction by French families whose men had once earned glory and riches under Napoleon.“” In der gedruckten Version (1946) lenkt Wittlin die Aufmerksamkeit hingegen gleich im ersten Satz auf den Nürnberger Prozess und die dafür erstellten Listen (insgesamt 39 Bände) von Kunstschätzen, die von den Nazis aus dem ganzen Kontinent zusammengerafft worden waren. Sie fragt, ob die Massenmörder Juni 2017 31