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Für Jossel Bergner Die Frau zeigt ihrem kleinen Sohn: Der, welcher dort am Tisch sitzt mit weifvem Hut, das ist kein Mensch. — Was sonst?— Eine Legende. Der Kleine dreht den Kopf nach hinten. Mutter, Kind — verschwinden. Der Sonnenuntergang wiegt sich auf ihrem Ohrgehänge. Der dort am Tischchen, sagt die Frau, der ist eine Legende. Ein Phönix-Mensch, geboren aus der Scheiterhaufen Asche, ist zweifellos Legende. Doch wieso ist die Legende beständig durstig nach der jungen Murmelei von Klängen? Wieso ist die Legende über-zeitig und gleichzeitig voll Wunden, so als läg‘ sie im Spital, während ein Messer im Leib herumspaziert; und ohne Kompass sucht Entkommen durchs Labyrinth der Adern etwas funkelnd Wesentliches? Die nagelneue Nacht ist lind und zart wie ein soeben gelegtes Ei. Die Milchstrafse — mit einem Schritt erreichbar. Der Phönix-Mensch am Tisch spürt plötzlich Lust hineinzubeißen in seine Hand, die grad was schreibt. Wie schmeckt seine Legende? [1981]? Ja, der Phönix-Mensch konnte, da er den Scheiterhaufen entkam, seine vollen Erdenjahre leben und ein einzigartiges künstlerisches Werk schaffen! Jetzt wünsche ich ihm ein leichtes Fortschreiten über die Milchstraße hinweg — wohin auch immer! Werk und Leben des Malers Jossel Bergner Am 13.10.1920 wird er als Wladimir Jossif Bergner in Wien als zweites Kind der Sängerin Fania Bergner und des jiddischen Dichters Melech Rawitsch (1893 — 1976) geboren. Er ist der Enkel von Hinde Bergner, der Verfasserin der postum erschienenen Autobiographie „In den langen Winternächten“. Bei seinen Großeltern im südpolnischen Städtel Radymno (jidd. Redim) verbringt er in seinen Kinderjahren die Sommer und lernt dort eine ländliche, traditionelle Welt kennen, in der das Leben anders verläuft als in der Großstadt Warschau, wohin er schon 1921 gekommen ist, als sein Vater mit der Familie dorthin zieht, um in diesem damaligen Zentrum der jiddischen Literatur zu leben. Jossel Bergner wächst also vor allem in Warschau auf. Dort besucht er die bundistische jiddische Folkszule und die polnischjüdische Technische Schule der Jüdischen Gemeinde und beginnt Malerei zu studieren. Sein Leben wird tiefgreifend von der dort blühenden modernen jiddischen Kultur und Literatur geprägt. Sein Vater war der Sekretär des dortigen Jiddischen Schriftstellervereins und gehörte zur expressionistischen Dichtergruppe di chaljasstre, was soviel wie Die Bande bedeutet. 1937, siebzehn Jahre alt, emigriert er auf Wunsch seines Vaters nach Australien, wo er sich als Hilfsarbeiter durchschlägt und an der Kunstschule der National Gallery of Victoria in Melbourne sein Studium der Malerei fortsetzt. Seine Bilder (u.a. von Aborigines) inspirieren in den 1940er Jahren zahlreiche australische Maler und tragen zur Herausbildung einer spezifisch australischen Moderne bei. 1941-1946 dient er in der australischen Armee und setzt dann seine Studien fort. Er gehört — zusammen mit Noel Counihan und Victor O’Connor — zur Gruppe der „Social Realists“. 1948 36 ZWISCHENWELT verlässt er Australien, hält sich zuerst in Paris, Montreal und New York auf und geht 1950 nach Israel. Dort wohnt er zuerst in Safed, bis er 1957 nach Tel Aviv übersiedelte, wo er bis heute mit seiner Frau, der Malerin Audrey Bergner (geb. Keller), lebt. Hier beginnt auch seine bühnenbildnerische Arbeit für jiddische und hebräische Theater. Weiters illustriert er zahlreiche Bücher der Weltliteratur, vor allem auch der jiddischen (z.B. J.L. Perez, Scholem Alejchem) und hebräischen (z.B. S.. Agnon). Unter den Auszeichnungen, die er erhält, sind u.a. der Dizengoff-Preis für Malerei, der Israel-Preis für Malerei und der Beit Shalom Aleichem Scheiber Preis für Literatur und Kunst. Am 18. Jänner 2017 ist Josses Bergner in Tel Aviv gestorben. Eine kleine Auswahl von Jossel Bergners zahlreichen Ausstellungen: 1939: Universität Melbourne zusammen mit Arthur Boyd und Noel Counihan; 1946: Melbourne — ,, Three Realist Artists“ (mit Noel Counihan und Victor O’ Connor). 1953: Haifa (mit Elazar Halivni und Audrey Bergner); 1956: IsraelPavillon der 28. Biennale in Venedig; 1957: Israel-Pavilion der 4. Biennale in Sao Paulo, Brasilien. 1958: „Modern Israeli Painting“, London; 29. Biennale in Venedig; „Modern Australian Art“ in Melbourne; 1962: Israel-Pavilion der 31. Biennale in Venedig und in der Ausstellung „Rebels and Precursors— Aspects of Painting in Melbourne 1937-1948“ in Melbourne und Sydney. 1975: „Paintings: 1955-75“ im Tel Aviv Museum, vertreten in der Ausstellung „Jewish Experience in the Art of the 20th Century“ im Jewish Museum, New York. 1976: „Peintures dapres Franz Kafka“ in Paris; 1980: „Pioneers and Flowers“ in New York. 1983: Retrospektiv-Ausstellung in Tel Aviv; 1985: RetrospektivAusstellung in Melbourne; 1990: Retrospektiv-Ausstellung in Adelaide, Australien. 1992: „Paintings to Kafka“ im Karolinum in Prag (für die KafkaGesellschaft). 1993: Retrospektiv-Ausstellung 1939-90 in Melbourne; 2000: Grofse Retrospektiv-Ausstellung im Tel Aviv Museum of Art. 2001-08: Verschiedene Ausstellungen in The Dan Gallery in Tel Aviv: » Lhe Zionists“, „The Journey“, „Jaffa Pleasure Boats“, „Paintings of Childhood‘, „Toys Collection‘, „The Train“. Armin Eidherr, geb. 1963 in Wels, Übersetzer, Schriftsteller, Jiddist, Universitätslehrer, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des „Zentrums für jüdische Kulturgeschichte“ der Universität Salzburg und Mitherausgeber der Zeitschrift für jüdische Kulturgeschichte „Chilufim“. Für seine Übersetzungen jiddischer Literatur wurde er u.a. mit dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Anmerkungen 1 Der Text findet sich mit dt. Übersetzung in: Eidherr, Armin (Hg.): gehat hob ikh a heym / Ich hatte ein Zuhaus‘. Zeitgenössische jiddische Lyrik. Landeck: EYE Literaturverlag 1999, S. 88-90. 2 Sutskever, Avrohm: Tsviling-bruder. lider fun togbukh 1974-1985. Tel Aviv: Farlag di goldene keyt 1986 (U:AE)