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besuchte sie erstmals im Frühjahr 2007 gemeinsam mit meinem Gefährten Peter Kreisky in Haifa. Ein Besuch — mein erster in Israel, der mein Leben verändern sollte! Ich werde nie den sonnigen Mittag vergessen, als Peter und ich das Gebäude des Flughafens Ben Gurion verließen und auf den Zug von Tel Aviv nach Haifa warteten. Alles wirkte fremd und abenteuerlich, die Palmen, das milde Wetter im Februar, die sehr europäisch aussehenden Menschen, darunter auch wüste, sehr orientalisch anmutende Gestalten, junge Menschen in Uniform und Gewehren, die mit ihren Handys beschäftigt waren. Peter war Jahrzehnte zuvor schon einmal in Israel gewesen, für mich war es Neuland. Die Zugfahrt dauerte nicht lang, kaum länger als eine U-Bahnfahrt in New York, und führte der Küste entlang vorbei an jüdischen Siedlungen, arabischen Dörfern (erst langsam lernte ich den Unterschied erkennen) und langen Strecken wilder Natur, dahinter schäumendes, weißgraues Meer. Nicht das freundliche, türkis-dunkelblaue Mittelmeer, das ich von Griechenland kannte, dachte ich noch, als bereits die Karmelberge in einiger Entfernung auftauchten. Ich werde nie vergessen, wie der von Hedy für uns bestellte christlich-palästinensische Taxifahrer Rohanan, der uns auch die kommenden Tage begleitete und mit dem wir wichtige Gespräche über das Leben der „anderen Hälfte“ der israelischen Bevölkerung führten, am Provinzbahnhof eines Vororts von Haifa auf uns wartete und in rasanter Fahrt mit spektakulärer Sicht auf die Bucht der Stadt die Berge zu Hedys proletarischem Stadtteil hinaufführte. Von Hedy wurden wir bereits erwartet und mit großer Wärme empfangen, als wären wir älteste Freunde. Das Essen war aufgetragen; fortan ließ es sich unsere Gastgeberin nicht nehmen, dreimal am Tag für uns meist unvertraute, russischrumänische Gerichte zu kochen. Hedy hatte ihr Schlafzimmer für uns frei gemacht, Kasten und Regale geleert und zog sich selbst in die winzige Bibliothek, ihre mit Uralt-Computer und tausenden Büchern und Akten vollgestopfte Schreibstube zurück. Dort verbrachte sie, wenn sie nicht gerade arbeitete, die Nächte auf dem Schlafsofa. Hedys bescheidenes Haus sollte von jenem Tag an eine neue Adresse für mich werden. Zurück nach Wien, Herbst 2006: Ich erinnere mich so lebendig, als wäre es gestern gewesen, an jene kurzfristig zu Ehren von Hedy Brenner improvisierte Gartenparty in der ansehnlichen Großbürgervilla der Kalbecks in Sievering (Gerüchten zufolge war sie im Krieg Wohnstätte des Wessely-Hörbiger-Clans gewesen). Ich bewunderte den eleganten Garten mit blühenden Beeten, das Haus mit verwunschenen Balkonen, großzügigen Zimmerfluchten und alten Stilmöbeln. Und die Gastgeberin Judith Kalbeck, die als guter Geist durch die Räume schwebte, alle kannte und die Menschen einander vorstellte. Es wurde serviert, man ging ein und aus, es wurde bis spät in die Nacht hinein diskutiert. Man sprach über Hedys Buch, über Israel, Österreich, Europa und die Politik. Ich erinnere mich, dass Peter Kreisky später dazustieß, er kam mit dem Rad, mit Flugblättern am Gepäckträger, die er danach verteilte, was allgemeines Schmunzeln hervorrief. Versammelt waren Künstler, Autoren, Wissenschaftler, Journalisten, Weltreisende, Freunde und Freundinnen von Hedwig aus Wien und Israel. Es war ein ungewöhnlich warmer, etwas melancholischer, an vergangene Zeiten gemahnender Spätsommerabend. Ich fühlte mich wohl, aber dennoch als Beobachterin. Ich resümierte, dass es wohl um die Jahrhundertwende bis in die 30er Jahre im Bildungsbürgertum Wiens solche Zusammenkünfte, die absichtslos 40 ZWISCHENWELT schienen und dennoch ungemein viel an Atmosphäre, Gehalt und Nähe hervorbrachten, gegeben haben musste; aus meiner Zeit waren sie mir unbekannt. Der bleibende Eindruck von Hedy Brenner jedoch, der sich unauslöschlich ins Gedächtnis eingeprägt hat, entstammt meinem ersten Besuch bei ihr in Haifa. Nicht nur wurden wir wie alte Freunde empfangen, wir fanden bald heraus, dass diese kleine, bescheidene Wohnung in einem wenig ansehnlichen Stadtteil Haifas eine „Weltfabrik“ der Intelligenz und der Begegnung von Menschen aus aller Welt war. Und Hedy war ihr erklartes Zentrum. Mit grofer Fiirsorglichkeit nahm sie die Rolle der Gastgeberin wahr, zeigte uns die Stadt, heuerte Taxis, um mit uns ins Kiinstlerdorf En Hod, nach Akko und Tiberias zu fahren. Gemeinsam besuchten wir einen Kibbuz in Galiläa nahe der libanesischen Grenze, wo Peter Kreisky eine ehemalige Mitarbeiterin seines Vaters Bruno besuchen wollte, die dort lebt und arbeitet: Die Autorin Barbara Taufer servierte uns eine echte Wiener Jause auf Karlsbader Porzellan. Wir genossen den Guglhupf, den Blick auf den Kinneret_See und plauderten über die Kreisky-Ära, Jitzchak Rabin und Jassir Arafat. Uns zu „Ehren“ schmiss Hedy eine Party in ihrem Haus, zu der sie Künstler, Wissenschaftler und Freunde einlud und alle selbst bewirtete. Hier machten wir die Bekanntschaft der wunderbaren Malerin Alicia Arbel, deren Familie im einstmaligen Böhmen eine große Textilfabrik besaß — unweit vom Herkunftsort von Peters Eltern. Ihre verwunschene Villa im Nobelviertel auf dem Karmel, in die ich gemeinsam mit Peter wenige Tage später geladen war, hinterließ einen unvergesslichen Eindruck. Man fühlte sich zurückversetzt in die Zeit der Monarchie, Alicia glich einer selbsternannten Botschafterin des alten Europa, das Haus ein Depot wertvoller Stilmöbel aus einer Friedenzeit vor dem 20. Jahrhundert. Porträts und Familienfotos aus mehreren Jahrhunderten hingen an den Wänden, wo kaum ein Platz leer blieb für die extensive Kunstsammlung. Alicia bewohnte das herrschaftliche Haus allein, hatte hier ihr Malatelier und eine Schleifwerkstatt für Glas. Hinter einer geheimnisvollen Tapetentür öffnete sich die eigene Welt einer Sammlung selbstgeschliffener Kristallglasobjekte in Spektralfarben - allein die Schwere dieser Arbeit und die dafür nötige handwerkliche Fähigkeit versetzten uns in Erstaunen. Alicia Arbel war in ähnlich fortgeschrittenem Alter wie Hedwig Brenner und sprühte gleich ihr von Tatendrang, Energie und Elan. Für mich war das Zusammensein mit Hedy Brenner und ihren Freunden die Bekanntschaft mit Menschen, die es bei uns einfach nicht mehr gibt! Bei den Gesprächen in ihrem Haus wurde mir das Ausmaß des Verlustes bewusst, welches das Fehlen so vieler Menschen des multikulturellen Altösterreich — jener, die überlebten, wie jener, die in den Tod getrieben wurden - für unsere Kultur bedeutet! Die Eindrücke aus Hedy Brenners „Weltfabrik“ blieben jahrelang Begleiter meines Denkens und meiner Fantasie über Israel. Sie waren widersprüchlich, bunt, voller Fragezeichen über den Gang der Geschichte, über Leben und Tod. Es war die beste Einführung in dieses so schwer zu verstehende, von Konflikten gebeutelte und nicht zur Ruhe kommende Land, vermutlich tiefer führend als jeder Besuch einer der bekannten Gedenkstätten (natürlich besuchten wir Yad Vashem). Hier lernte ich Menschen kennen, deren Biografien ich als Teile unserer eigenen Geschichte erkannte, jene von Eltern, Lehrern und weiten Teilen der österreichischen Gesellschaft verschwiegenen Anteile, ohne die unsere Kultur um Wesentliches ärmer ist.