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Timo Brandt Gedichte Requiem auf Anna Achmatowa Am grauen Strome der Newa im strichschwarzen Kolorit der Eisenzaunstuckfassaden wo Wind nur als Staub geschieht, gegen Nieselregen und Rufmord, in einem warmen Kerzenkleid, gesprungen wie Glas, von Kristallart, bloß gewappnet mit ihrem Leid, geht Anna Achmatowa wie ohne Genick einher — tief sind die armen Sinne, Blinkreiche, vom Lichte leer. Grau das Schließen der Augen, tiefblau der Schlüssel vom Meer. In ihrer kaum zu begleitender Schwermut liegen Finger auf Papier, ruh’n wie auf allem, wie Glieder es tun. Nichts in ihr ist hier. So viel wurde fremd; kein Tag, kein Weg hat mehr Pferdegetrappel. Mandelstam: tot. Russland gepfändet. Licht in der Schneedornpappel. I Bosheit hat sie zerschlagen, Zerstörtheit zusammengesetzt. Man sicht ihren Blick nichts wagen. Und das Papier wirkt gehetzt. Notlicht in ihren Adern. Portrait ohne Ebenbild. Kein destin und kein Hadern. Stille, gebraucht wie ein Schild. Engel die Züge, kaltmarmorn ergraut; ein Gedenken, versteckt, in dem schmalen Gesicht. Die Hoffnung: was nach innen schaut um irgendwie die Angst zu bezahlen. Voll Lebensflucht, exerziert als Gestalt, übertüncht fahle Furcht alle Qualen. Keine Gedichte mehr aufzufinden, Freundschaften sind Jahre her: Blok und Pasternak — nicht zuletzt Puschkin, So gingen die Grenzen in dich hinein. Sie nannten dich niemand und mehr. Du fandest nicht, was du versuchtest. Dein Leben war Beisein. Das Warten fällt schwer. Wiegenlied für Joseph Brodsky Am Strand verlaufen sich die Gedanken, Böen, verwehend das Mobile der Gefühle, die Panzerradspuren des Glaubens, die Schmetterlinge der Demut: unkontrolliert und doch endgültig in einem Spektrum hin und her geworfen: Wind. Es bleibt nur das Wasser. Es verlaufen im Rauschen, Schlagen, Brechen, Fließen, Schwappen, Kreisen die Gedanken, weil die Wellen keine Mosaike zulassen; kein Erzählen, keine Mythenbildung außer der eigenen, keine Akzente des Daseins, die im Ankommen verblassen. Du - keine Ankunft mehr, sondern abgeleitetes Dasein, der Wellen Päpstlichkeit wirft deine Stimme zurück. Hinaus aufs Meer? — du: keine Ankunft! Keine Abfahrt! Leerer ist die Auskunft als das Daseinsstichwort: mehr. Nautische Fassung von einsam: kein Stück der Wellen ist dein, nur alle sind dein, gemeinsam, im Verlaufen: im Raum des Sandes, beweisen sie Bewegung. Keine Antwort, du... nur Federgewichte, die seltsam segeln, auf der Zeit, sind Empfinden... die Zeit, abgewandt, hinter den Räumen weiterlaufend. Ein Fischmaultrinken an der Ewigkeit. Du, ein Name, keine Auskunft; noch mehr führt ins Nichts. Dein Ertragen ehrt das Bewegte, dem Meer bedeutet es nichts. Die Wellen: eine lange Auskunft, die sich an Stelle deiner unterbricht. Und schweigt, solange du zuhörst. Für dich, solange du zuhörst. Unwillkürlich ist es das Einzige und das Hundertfache, das Arge, das Nachlassende. Der Fluchtpunkt im Mund, mit dem du lachst. Kaiser und Könige mögen errichten; Gedichte, als Tau. — Als Regen, der keine Wellen hat, keine Zeit, doch: jene Ankunft, die deinem Kopf unpässlich ist, deine Seele versammelt unterm Segel. Und fragt: was, was könnte... Juni 2017 49