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unliebsame Fremde und „gefährliche Moslems“ verteidigen, indem sie genau diese Werte Schritt für Schritt verwässern oder aufgeben. Um ein Zitat von Günter Seufert am Beginn dieses Vortrags zu paraphrasieren: Unsere Werte sind Kostbarkeiten, die nichts von ihrem Glanz verlieren, auch wenn man sie bis zur Unkenntlichkeit mit Schmutz und mit Fäkalien bedeckt. Der Unterschied liegt in der Gewichtung. Während ein bestimmter „besorgter“ Menschenschlag weit rechts von der Mitte bei uns immer noch in der Minderheit ist, bildet er jenseits unserer östlichen und nördlichen Grenze längst, besser gesagt schon seit langem, die Mehrheit. Das Selbstverständnis, die Identifikation und Definition des Eigenen und seine Abgrenzung gegenüber dem Fremden, ist sicher ein wichtiger Grund dafür. Was ich dazu vorhin am Beispiel des postsowjetischen Raumes gesagt habe, lässt sich, wenn auch natürlich nicht eins zu eins und mit jeweils ganz eigenen regionalen Spezifika, auf andere Staaten Osteuropas übertragen. Die Schwäche moderner identitätsstiftender Modelle, die aufdemokratischen, egalitären Werten basieren sowie auf einer Kultur, die diese Werte widerspiegelt, ist ein wichtiger Faktor. Die weißrussische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch schreibt in ihrem Buch Secondhand—Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus: „Der Kommunismus hatte den aberwitzigen Plan — den ‚alten‘ Menschen umzumodeln [...]. Und das ist gelungen, es ist vielleicht das Einzige, das gelungen ist.“ Die Menschen zwischen Eisenach und Wladiwostok sind auch heute noch, die einen mehr, andere weniger, ein Produkt des „real existierenden Sozialismus“, tragen die Prägungen und Verletzungen jener Zeit in sich und geben diese, direkt oder unbewusst, an die nächsten Generationen weiter. Gegen Ende der kommunistischen Ära war ein resignativer Zynismus vorherrschend, ein Zynismus, der sich vor allem im Witz manifestierte. Wenn die offiziellen Regeln standig gebrochen werden und alles, was geglaubt werden soll, das Gerede von Humanität, Internationalismus und einem besseren Menschen zur leeren Hülse verkommt, während in Wirklichkeit Gewalt und Korruption das Leben bestimmen, ist „Authentizität“ nur mehr im Lachen über die Welt und über sich selbst zu finden. Breschnew war ein Diktator, aber er war auch eine Witzfigur. Inzwischen gibt es in Russland auch Witze über Putin, was ein gutes Zeichen ist. Als Wladimir Putin 2012 zum dritten Mal zum Präsidenten gewählt wurde, fanden in Moskau Massenkundgebungen gegen ihn statt. An einer von ihnen nahm eine junge Frau teil, die ein russisches Nationalkostüm trug und „Mütterchen Russland“ symbolisieren sollte. Sie trug ein Transparent mit der Aufschrift: Du willst schon zum dritten Mal, aber ich habe Kopfschmerzen. Witz und resignativer Zynismus prägten den Menschen des Ostblocks. Als das System schließlich zusammenbrach, war es nur eine engagierte Minderheit, die konzeptuell etwas ganz Neues, eine alternative Gesellschaft anstrebte. Die Mehrheit hingegen wollte Bananen, größere Wohnungen, gute Gehälter, Urlaubsreisen nach Frankreich oder Amerika. Dass gerade dies jedoch auf Dauer nur dann erreicht werden kann, wenn man genau daran glaubt, was man jahraus, jahrein als heuchlerische Tünche eines korrupten Regimes erlebt hatte — dazu gehören vor allem ethische Grundsätze, Rechtssicherheit und der gesellschaftliche Diskurs —, haben viele nicht verstanden. Zum Wesen einer Zivilgesellschaft gehört ihre Fähigkeit, Fiktionen zur Realität werden zu lassen, ohne ihren fiktionalen Charakter zu vergessen. Anders ausgedrückt: es geht um den Glauben an bestimmte gemeinsame Werte (Fiktionen) und die Fähigkeit, diese und demzufolge auch die eigene Haltung zu begründen, zu hinterfragen und zu ändern, weil man weiß, dass die besagten Werte weder von Gott gegeben noch im Sinne des Naturrechts von Anfang an vorhanden und somit zeitlos sind, sondern stets auf Konventionen beruhen und im historischen Kontext gesehen werden müssen. Der Lebenswille ist Realitat, das Recht auf Leben aber Fiktion, es sei denn man glaubt daran und setzt es durch. Es gibt keine Rechte per se. In der kommunistischen Diktatur wurden Fiktionen immer absolut gesetzt und waren dabei nichts als Scheinrealitäten, Schablonen, und auch in der postkommunistischen Zeit überwog der Glaube an das Einzige, was - gesellschaftlich betrachtet — keine Fiktion ist, nämlich reale Macht. Ein Vertrag ist nur ein Fetzen Papier, wenn die Vertragspartner an seine Gültigkeit nicht mehr glauben wollen. Eine Kalaschnikow ist hingegen immer eine Waffe, wenn sie geladen ist und man weiß, wo der Abzug ist. Tendenziell ist die Dominanz der „realen Macht“ überall zu finden, wo der Sozialismus einst „real existierte“. Nepotismus, Korruption und mafiose Strukturen sind gleichermaßen eine Folge davon wie ein ungehemmter Neoliberalismus, Chauvinismus, Homophobie, Diskriminierung von Minderheiten oder Antisemitismus. Ja, auch der Chauvinismus, wie er sich vor allem in den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien und im postsowjetischen Raum manifestierte, ist ein Ausdruck der erwähnten Machtrealität, dient doch ein radikaler Nationalismus oft dazu, Gleichgesinnte zu finden, um die Kalaschnikows auf jene zu richten, die einem im Wege stehen, also gemeinsame Interessen durchzusetzen. Reinen „Fiktionen“ wie universalen Menschenrechten oder die Verpflichtung, irgendwelchen Menschen aus dem Orient oder aus Afrika zu helfen, die ungebeten über die Grenze kommen, begegnet man entweder mit Aggression oder mit Zynismus. Der eigene Opfermythos verstärkt diese Haltung noch. Wenn jemand überzeugt ist, mehr gelitten zu haben als andere, auf jeden Fall aber mehr als die westlichen Nachbarn, die man deshalb beneidet und bewundert, gleichzeitig aber belächelt, weil man sie für naiv, rührselig und in ihrer saturierten Humanität, die man sich natürlich erst leisten können muss, für selbstgefällig, verweichlicht und gleichzeitig manipulierbar hält, dann hat man auch keine Einsicht dafür, warum man einen Teil jener Flüchtlinge, die der „reiche Westen“ aus Schwäche und aus emotionalem Überschwang nach Europa gelassen hat, plötzlich selbst aufnehmen soll. Stattdessen tendiert man zu simplen Lösungen und beruft sich dabei auf eine scheinbar harte Faktenlage. Die „besorgten Bürgerinnen und Bürger“ hierzulande kommen zu ähnlichen Lösungen: Man solle den jungen Flüchtlingen aus Syrien Waffen geben und sie nach Syrien zurückschicken, damit sie mit der Waffe in der Hand für den Frieden in ihrem eigenen Land kämpfen. So etwas kann jemand in Österreich genauso sagen wie in Bulgarien, Lettland oder Russland. Dennoch ist die Tiefendimension und die Nuancierung in Osteuropa eine andere... Juni 2017 53