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den Physiker Robert Mayer, fasste er den Gedanken der elektrischen Kraftübertragung. Ein nie vorher gedachter Gedanke! Das Prinzip der Fernleitung und Transformation von Elektrizität war geboren — das Prinzip unserer Wasserkraftwerke. Es war Popper zu jener Zeit — man schrieb 1862 — nicht möglich, seine Erfindung praktisch zu erproben. Die dazu notwendigen zwei magnetelektrischen Maschinen waren in Wien nicht zu beschaffen. Dem jungen Erfinder blieb nichts anderes übrig, als seine Idee zu Papier zu bringen und in einem versiegelten Kuvert der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften einzureichen. Zwanzig Jahre später feierte er den Triumph der Priorität. Auf der Münchner elektrischen Ausstellung zeigte ein französischer Ingenieur einem verblüfften Publikum, wie ein dünner Draht genügte, um eine Kraft von 1,5 PS von Mistelbach nach München elektrisch zu übertragen. In einer Aufwallung gekränkten Erfinderstolzes ließ Popper das versiegelte Kuvert öffnen und im Sitzungsbericht der Akademie der Wissenschaften veröffentlichen. In dieser Frühschrift hat Popper geradezu visionär die ungeheuren Möglichkeiten der Benützung der Naturkräfte für die Wohlfahrt der Menschheit dargestellt, insbesondere bei der Erschließung unterentwickelter Gebiete. Bald aber machte er sich klar, daß der Fortschritt der Menschheit nicht allein von der Technik abhängt. Er, der Techniker, wurde mit der 1878 erschienenen Schrift „Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben“ Ethiker. In dem Buch „Das Recht zu leben und die Pflicht zu sterben“ ist das ganze Sozialsystem Poppers enthalten. Empört über die Unzulänglichkeit, Unmenschlichkeit der bestehenden Gesellschaft konstruiert der Konstrukteur eine neue, bessere. Mit der Unbefangenheit eines Kindes überlegt er: Wenn man eine Lokomotive konstruieren kann, warum soll man nicht eine Gesellschaftsordnung konstruieren — nach dem Maße der Vernunft und der Zweckmäßigkeit? Poppers Reformvorschlag lautet: Allgemeine Nährpflicht. Die Allgemeine Nährpflicht, die Königsidee Poppers, ist eine Gesellschaftskonstruktion, die jedem Menschen ausnahmslos das Lebensminimum garantiert, indem alle Erwachsenen, arbeitsfähigen Männer und Frauen eine bestimmte Anzahl von Jahren an der Produktion der für das Minimum nötigen Güter arbeiten. Was die Wehrpflicht für den Krieg ist, soll die Nährpflicht für den Frieden sein. In einem dicken Wälzer hat Popper 1912 den Plan der Allgemeinen Nährpflicht durchgerechnet. Er stützt sich dabei auf die damals bekannten statistischen Daten über Deutschland. Erwachsene dienen eine bestimmte Anzahl von Jahren — Manner 13, Frauen 8 — in der Nahrarmee, die das Minimum an Nahrung, Wohnung, Kleidung für alle, produziert; was darüber ist, bleibt der freien wirtschaftlichen Tätigkeit überlassen. Der zweite Königsgedanke Poppers: Niemand kann gezwungen werden für einen sogenannten höheren Zweck sein Leben zu opfern. Es gibt keine Pflicht zu sterben. Kriegsdienst muss freiwillig sein. Wer einen bestimmten Krieg bejaht, soll ihn führen. Popper fordert nicht die Beseitigung der Wehrpflicht. Für den Katastropheneinsatz oder als Ordnungsmacht mag das Heer bestehen bleiben. Aber über Leben und Tod kann jeder nur für sich selber entscheiden, niemals über einen andern. Was der Ethiker nicht einschen wollte, ist, daß es ungerechte und gerechte Kriege gibt. Daß ein Volk das Recht hat, ja die Pflicht, einen Verteidigungskrieg zu führen, hat Popper nicht bestritten; nur, ausgehend von seinem extrem individualistischen Standpunkt, war er der Überzeugung, daß ein solcher Krieg nur von Freiwilligen geführt werden dürfe. Was er bekämpfte, war der Zwang sich töten zu lassen, die Pflicht zu sterben. Man muss fragen, haben die Zeitgenossen das Utopische in Poppers Ideen nicht erkannt? Hier muss bemerkt werden, daß Popper das war, was man einen integralen Pazifisten nennt. Frieden um jeden Preis. Diese Haltung, so utopisch, ja unpolitisch sie ist, hatte und hat viele bedeutende Verfechter. Denken wir an Tolstoj. Nun ist es interessant zu schen, daß dieser Gedanke der radikalen Ablehnung des erzwungenen Kriegsdienstes von Seiten eines andern Moralisten und Zeitgenossen Poppers geteilt wurde. Ich spreche von Karl Kraus, der in der „Fackel“ 1899 Poppers kräftige Argumente dem, wie er sagte, „schwächlichen Gefasel der Friedenskurpfuscher“ gegenüberstellte. Noch lauter kam der Vorwurf der Utopie in Anbetracht der sozialen Ideen Poppers, in erster Linie gegen die Allgemeine Nährpflicht. Gegen den Vorwurf der Utopie setzte sich Popper energisch zu Wehr. Niemand habe die Unausführbarkeit der Allgemeinen Nährpflicht bewiesen. Popper definierte die Allgemeine Nährpflicht als eine Synthese, welche die Vorzüge des kapitalistischen und sozialistischen Systems vereine. Aber es konnte nicht ausbleiben, daß sich zwischen Poppers Traumbild und der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung eine tiefe Kluft auftat. Den Sozialisten warf Popper vor, daß sie die Menschen in Klassen einteilten, wo doch in Wirklichkeit alle Menschen die gleichen Minimalbedürfnisse haben, Arbeiter nicht mehr und nicht weniger als Universitätsprofessoren. Die Sozialisten warfen Popper sein tiefes Mißverstehen der Gesellschaftsstruktur und des gesellschaftlichen Prozesses vor. Albert Einstein, dem wir zum erheblichen Teil unser modernes Weltbild verdanken, gab 1954 über Poppers Lehre zwischen Plan und Utopie ein ausgewogenes Urteil: Wir wissen, daß dem heutigen Stand der technologischen Entwicklung die dauernde Existenz der Menschheit ohne organisierte Planung — eigentlich sogar auf tibernationaler Basis — unvorstellbar ist. Gleichwohl, als Erfordernis einer rationellen Planung brauchen wir Klarheit der zu erreichenden Ziele. Daher ist eine der entsprechenden Voraussetzungen die, daß wir die Zielblindheit überwinden. Hiebei kann Popper-Lynkeus von großem Nutzen sein. Dem toten Popper widmete das Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei, die „Arbeiter-Zeitung“, einen Nachruf, in welchem, bei allem Respekt vor dem großen Toten, seine Sozialreform erneut als Utopie gekennzeichnet wurde, Popper löse das Individuum von der Gesellschaft los. Um die Vorschläge Poppers richtig einzuschätzen, ist es notwendig, auf seine philosophische Grundhaltung einzugehen. Als Freund von Ernst Mach war Popper ein sogenannter Positivist. Als Rationalist verehrte er Voltaire, man hat ihn, den verspäteten Aufklärer, den „Voltaire von Wien“ genannt. Was aber das wichtigste Kennzeichen seiner Philosophie ist: Popper huldigte einem extremen Individualismus. Im Individuum sah er etwas Absolutes, keinem andern Wert untergeordnet. Gesellschaft, Klasse, Staat, alle Ideen, die Freud unter dem Begriff Über-Ich zusammenfasst, waren für Popper bloße Einbildungen oder Konventionen. In dieser Beziehung deckt sich seine Vorstellung mit der des Individual-Anarchisten Max Stirner, dessen Buch „Der Einzige und sein Eigentum“ von Karl Marx zum Gegenstand einer der umfangreichsten Polemiken der Ideengeschichte gemacht worden ist. Aber im Gegensatz zu Stirner, der aus dem extremen Juni 2017 57