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Individualismus den Kampf aller gegen alle, also den Anarchismus ableitete, zieht Popper aus der Verabsolutierung des Individuums den entgegengesetzten Schluss: Das Individuum ist der höchste Wert, er hat den Anspruch auf absoluten Vorrang in der gesellschaftlichen Bewertung. „Grundprinzip einer gesitteten Gesellschaftsordnung“ sei: Wenn irgendein, selbst noch so unbedeutendes, Individuum, das keines Andern Leben mit Absicht gefährdet, ohne oder gar wider seinen Willen aus der Welt verschwindet, so ist das ein ungleich wichtigeres Ereignis als alle politischen, religiösen oder nationalen Ereignisse und als sämtliche wissenschaftlichen, künstlerischen und technischen Fortschritte aller Jahrhunderte und Völker zusammengenommen. — Wer das für eine Übertreibung hält, der möge nur denken, er selbst oder eine von ihm selbst geliebte Person wäre jenes Individuum — und sofort wird er es verstehen und glauben. (Motto zu dem Buch „Das Individuum und die Bewertung menschlicher Existenzen“, 1910). Dieser abstrakte Individualismus widerspricht, wie wir zu wissen glauben, der Wirklichkeit. Dieses absolute Individuum existiert nicht. In Wirklichkeit ist das Individuum in einer nie abreißenden Wechselbeziehung zur Gesellschaft, und nur wenn man das Individuum in seiner gesellschaftlichen Rolle sieht, kann man zu wissenschaftlichen, also nicht utopischen Erkenntnissen kommen. Aus der Distanz eines halben Jahrhunderts kann der Streit um den utopischen Charakter der Popperschen Konstruktion freivon Ressentiments definiert werden: Popper-Lynkeus hat die soziale Frage nicht als gesellschaftliches Problem, sondern als technischethisches Problem behandelt. Der Techniker übersieht souverän die Struktur der Gesellschaft und deren Veränderbarkeit. Sein Objekt ist in der Tat der von jeder Gesellschaftlichkeit losgelöste Einzelmensch, den es in der Wirklichkeit nicht gibt. Treffend hat der Wiener Sozialphilosoph Max Adler ausgesprochen: Nichts an dem Plan Poppers ist unausführbar, nur über den Weg, wie man zu einer gerechteren Gesellschaftsordnung gelangt, seien die Meinungen geteilt. Popper selbst will sein System als ein „sozialistisch-individualistisches“ benannt wissen, was offenbar ein unlösbarer Widerspruch ist. Dennoch ist von heutiger Sicht die scherische Kraft des Denkers, der Technik und Ethik zu vereinen suchte, überraschend. Die Garantie der Minimalbedürfnisse, ist das nicht der heute vielgenannte Wohlfahrtsstaat? Ist die Forderung, daß die technische Entwicklung, an sich wertfrei, in den Dienst einer gerechten Gesellschaft gestellt werden müsse, nicht ein moderner Gedanke? Ja sogar die radikale Ablehnung des erzwungenen Kriegsdienstes ist von der amerikanischen Jugend, die sich weigert, in den ungerechten Krieg von Vietnam zu ziehen, aktualisiert worden, wenn auch in einem andern Sinn, als es Popper gemeint hat. Wahrscheinlich wäre Popper-Lynkeus mit seinen sozialreformerischen Ideen nicht so berühmt geworden, hätte er seine Zeitgenossen nicht zugleich mit seinem einzigen literarischen Werk „Phantasien eines Realisten“ schockiert. Der Schock war nachhaltig. Das Buch wurde nach einer stürmischen Parlamentsdebatte von der kaiserlichen Justiz wegen Gotteslästerung und Verletzung der Sittlichkeit konfisziert. Bis zur Revolution von 1918 blieben die „Phantasien eines Realisten“ verboten; dennoch oder ebendeshalb erlebten sie bis 1921 ... 22 Auflagen. 1901, zwei Jahre nach ihrem Erscheinen, waren die „Phantasien eines Realisten“ Gegenstand eines wütenden Angriffs des 58 _ ZWISCHENWELT deutschnationalen Abgeordneten Schönerer im Abgeordnetenhaus. „Während deutsche Volkskundgebungen unterdrückt werden, bleiben römische und jüdische volksverderbende Machwerke unbehelligt.“ Noch während der geheimen Sitzung erteilte der Justizminister der Staatsanwaltschaft telefonisch den Auftrag, das Buch zu konfiszieren. Karl Kraus in der „Fackel“ machte sich über das Muckertum der kaiserlichen Behörden lustig, aber es blieb bei dem Verbot. Erst 1918 wurden die „Phantasien eines Realisten“ freigegeben. Wichtig, wenn auch wenig bekannt, ist die Tatsache, daß Sigmund Freud mehrfach bekannte, seine Traumtheorie sei in einer Erzählung Poppers vorweggenommen worden. Zum 10. Jahrestag von Poppers Tod erweiterte Freud eine frühere Mitteilung über Poppers Priorität an der Traumdeutung durch ein bemerkenswertes Bekenntnis: Eine besondere Sympathie zog mich zu ihm hin, da offenbar auch er die Bitterkeit des jüdischen Lebens und die Hohlheit der gegenwärtigen Kulturideale schmerzlich empfunden. Gewisse Kenntnisse des jüdischen Schrifttums muss der Philosoph, dem der Mensch näher stand als die Menschheit, von Jugend an gehabt haben. Die Lehre von der Einzigkeit und Unersetzbarkeit des Individuums ist ihm nicht wie bei dem Junghegelianer Max Stirner Begründung für Selbstisolierung, Egoismus, Solipsismus, sondern im Gegenteil Ausgangspunkt für Weltoffenheit und Weltfreundlichkeit. Um seinen Hauptgedanken faßlich zu machen, beruft er sich auf den Talmud: Der Satz in Pirge Aboth [Sprüche der Väter, Red.]: „Jeder ist verpflichtet zu sagen, meinetwegen ist die Welt erschaffen“, drücke sein Grundgefühl aus, sagt Popper. In der Nachfolge von Lessings Nathan legt Popper in der Erzählung „Tischgespräch bei Martin Luther“ dem Rabbi Hirsch die Worte in den Mund, die er selber gebraucht hätte, ginge es um Buchgläubigkeit und Ketzerei: „Ihr habt euer Buch, der Terk [jiddisch für Türke, Red.] hat sein Buch. Andere haben ihr Buch, sein Buch, ihr Buch ist immer nichts weiter als ein Buch“. Der Unglaube an Dogmen und Riten hinderte den Philosophen nicht, seine Lehre von der Würde des Menschen in das Gewand einer chassidischen Legende zu kleiden. Eine der schönsten Geschichten, die Popper geschrieben bat, ist in der 1899 abgeschlossenen Sammlung der „Phantasien eines Realisten“ nicht enthalten. Die Fabel „Eine Sabbatfeier des Bal-Schem“ ist 1920 in der „Wiener Morgenzeitung“, herausgegeben von dem Wiener Zionistenführer und Popper-Anhänger Ing. Robert Stricker, erschienen. Mit der Pointe, daß der Dank des Rabbi nach guter Heimfahrt nicht dem Kutscher gebührt, sondern dem Pferd, das ja die Arbeit geleistet, hat Popper eine alte chassidische Anekdote in die deutsche Literatur eingeführt. Popper beschreibt selbst wie und warum er literarisch zu arbeiten begonnen hat. Der Reisende in technischen Artikeln hat unterwegs, in der Eisenbahn und im Gasthof, begonnen seine Träume aufzuzeichnen. Die „Phantasien eines Realisten“ entziehen sich den Maßstäben landläufiger Literaturkritik. In den Geschichten überwiegt das Absurde im totalen Gegensatz sowohl zu den wissenschaftlichen wie zu den moralischen Grundsätzen des Verfassers. Die hier agierenden Menschen sind meist irreale Wesen und handeln entgegen den zugelassenen Gesetzen der etablierten Gesellschaft. Ein Sechstel oder ein Siebtel der Geschichten, sagt Popper, seien einfach Träume. Das klingt glaubhaft. Der Traumcharakter ist auch in jenen Stücken manifest, die vordergründig nicht im Traum angesiedelt sind. Popper hat seine ungewöhnliche