OCR
Die Pogrome der Schwarzen Hundert in Rußland haben Popper zutiefst aufgewühlt. Der sozusagen „zivile“ Antisemitismus im Reiche Bismarcks sei nur „der bescheidene Vorhof der Hölle“ gewesen, jetzt erst sei die wirkliche, die ganze Hölle da, meinte er in einem Gespräch unter dem Eindruck der Nachrichten über das Blutbad von Kischinew (1903). Irgendeinmal war der Gegner jeder positiven Religion aus der jüdischen Religionsgemeinsenaft ausgetreten. Jetzt wurde für ihn die in „Fürst Bismark und der Antisemitismus“ geforderte Solidarität aller Juden gegen die Verfolger zur Gewissensfrage. Popper machte seinen Austritt rückgängig. So sehr Popper in der Tatsache, daß die Juden keinen eigenen Staat haben, den letzten Grund für ihr Herumgestoßenwerden in der Welt erblickte, so war er dennoch kein Zionist. Nicht allein seine kosmopolitische, jedem Nationalismus abholde Grundhaltung ist ausschlaggebend gewesen: Er fürchtete, daß ein jüdisches Palästina eines Tages zu einem als Krieg getarnten Super-Pogrom führen werde. So berichtet auf Grund von Gesprächen der Freund, Anhänger und Biograph Adolf Gelber. Der Erste Weltkrieg war zu Ende. Popper war 80 Jahre alt geworden. Um den greisen Denker hatte sich eine Gemeinde gebildet. In Unter Sankt Veit lebte er in einer bescheidenen Wohnung, seit Jahren krank, unfähig das Haus, ja in der letzten Zeit auch nur das Bett zu verlassen. Bedeutende Persönlichkeiten kamen an sein Krankenlager, um den weisen Menschenfreund ihre Achtung zu bezeugen. Es kamen Albert Einstein, Arthur Schnitzler, Alexander Moissi; zu dem Freundeskreis gehörten u.a. Hermann Bahr, Stefan Zweig, Heinrich Glücksmann, Wilhelm Jerusalem, zu den Verehrern jene Frauen und Männer, die in den frühen Zwanzigerjahren das aufgeklärte Wiener Bürgertum repräsentierten, wie Marianne Hainisch, Rudolf Goldscheid, Julius Ofner. Seine Jünger hatten einen Verein zur Propagierung der Allgemeinen Nährpflicht gegründet. Die Gemeinde Wien gewährte dem Philosophen eine Ehrenpension, die ihm das Dasein in den schweren Nachkriegsjahren erleichterte. [...] Zu Albert Einstein sagte er zum Abschied: ,,Bleiben Sie standhaft, auch in der Judenfrage!“ Der das Ende nahe fühlte, hatte einmal von den Schülern des Konfuzius geschrieben, sie sterben, wie sie gelebt haben — ohne Furcht. Seinem ordnenden Sinn entsprach es, alles vorzukehren für seinen Tod und für nachher. Mit der Gemütsruhe eines wahren Weisen fragte er bei der Israelitschen Kultusgemeinde an, wie hoch die Kosten einer Begräbnisstätte auf dem jüdischen Friedhof seien. In ihrer Antwort verprach die Kultusgemeinde ein Ehrengrab, was Popper im Gespräch mit den Worten quittierte: „Ich werde Euch noch lange warten lassen mit Eurem Ehrengrab.“ So berichtet Margit Ornstein, Poppers treue Sekretärin. Am 11. Dezember 1921, sein Testament diktierend, ordnete er für das versprochene Ehrengrab die Inschrift an. Seine reiche Büchersammlung vermachte er 60 _ ZWISCHENWELT der „Jüdischen Palästinasammlung- und Forschungsgesellschaft“, ein Legat widmete er der „Chewra-Kadischa“. Poppers Bibliothek und sein gesamter schriftlicher Nachlass befinden sich in der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem. Sein Vorbild war Voltaire. Wie der große französische Aufklärer Voltaire stürzte er sich in seinen lebenslangen Kampf gegen Glauben und Aberglauben, gegen Mystik und Metaphysik, gegen Kirche und Kleriker, gegen Kreuzziige aller Art, gegen ,,Transzendenz mit Brachialgewalt“, wie er sich ausdrückte. Die Vernunft soll herrschen. In seinem Nachlass fand sich ein Buch gegen Religion, das zu seinen Lebzeiten wegen der Zensur nicht erscheinen konnte. Er schloß die Jüdische Religion aus der Verdammung nicht aus. Josef Popper-Lynkeus hatte mit der Tradition des Judentums gebrochen — und blieb dennoch im Leben wie im Tode Jude. Meine persönliche Erinnerung: Ich war ein junger Philosophiestudent, als ich Popper besuchte. Es war im Frühjahr 1921. Er lag krank in seiner Wohnung in Hietzing. Er sagte: „Weniger Philosophie, mehr Technik, junger Mann.“ Er hatte mich gefragt, was ich studierte. Philosophie hat dem Philosophen nicht gefallen. Zum Abschluss möchte ich die Würdigung des in jungen Jahren verstorbenen Wiener Sozialhistorikers Albert Fuchs zitieren, eine Würdigung, die ich vorbehaltlos teile: Wir spüren aus Poppers Worten den Schlag eines großen Herzens, wir spüren, daß hier noch einmal der Enthusiasmus der Aufklärung brennt, jener Enthusiasmus der Nüchternheit, dem die Welt die Toleranzidee verdankt, die Idee der Humanität, des ewigen Friedens, des unendlichen Fortschritts. Darum lesen wir Poppers Übertreibungen mit einem Lächeln und nicht ohne Ergriffenheit. Bruno Frei, geb. als Benedikt Freistadt 1897 in Preßburg, verst. 1988 in Klosterneuburg, studierte 1916-22 Philosophie in Wien. Kommunistischer Journalist und Publizist, u.a. 1929-33 in Berlin Chefredakteur von „Berlin am Morgen“ und im tschechoslowakischen Exil der Wochenzeitung „Der Gegen-Angriff“. In Frankreich als „feindlicher Ausländer“ interniert, gelingt ihm 1941 die Flucht nach Mexiko; dort u.a. Mitbegründer des Verlages El libro libre“ und Redakteur der Monatsschrift „Austria libre“. 1947 nach Wien zurückgekehrt, ist er 1959-65 Mitherausgeber des „Österreichischen Tagebuchs“. Bleibt auch nach 1968 Mitglied der KPO; 1972 erscheint seine von DDR-Verlagen abgelehnte Autobiographie „Der Papiersäbel“ im ‚Westen‘ bei S. Fischer in Frankfurt/M. — Bruno Freis Studie über Josef Popper-Lynkeus erschien unter dem Titel „Der Türmer“ 1971. Das Manuskript „Popper-Lynkeus-Vortrag“ (der Titel „Der Zaddik von Unter Sankt Veit“ wurde von der ZW-Redaktion gewählt) befindet sich in der Herbert Exenberger-Sammlung im Archiv der Theodor Kramer Gesellschaft.