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Wolfgang Schmale, Christopher Treiblmayr Der Erste Weltkrieg war kaum zu Ende, als schon die ersten diktatorischen bzw. faschistischen (Italien) Regime auftraten, vermeintliche und tatsächliche Gegner einschüchterten, verhafteten, ermordeten. Flucht und Exil bestimmten die gesamte Zwischenkriegszeit, gewissermaßen vom ersten Tag der Friedensschlüsse an. ' In der Folge wurden allenthalben Vereine gegründet, die die EmigrantInnen im Gastland unterstützten und in denen sich viele EmigrantInnen wiederum selbst engagierten. Eine Schlüsselfunktion kam dabei teilweise den Menschenrechtsligen zu. Besonders aktiv war die französische Ligue des droits de Phomme. Frankreich gehörte bis 1939/1940 zu den bevorzugten Zielen der Emigration. Dies hatte einerseits mit der historisch bedingten Attraktivität des Landes als Ausdruck von Zivilisation schlechthin und als Mutter der Menschenrechte zu tun, die von Frankreich auch aktiv gefördert wurden, andererseits verkleinerte sich nach 1930 die Zahl möglicher sicherer Länder für das Exil in Europa selbst rapide. Zum Dritten hing dies offenbar mit der Gründung der Ligue oder auch Fédération internationale des droits de Phomme 1922 in Paris zusammen. Bei dieser internationalen Liga handelte es sich um einen Ligen-Dachverband. Die französische Liga für Menschenrechte ist die älteste, sie wurde 1898 gegründet.” Anlass war der Skandalprozess gegen den jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus gewesen, der auf der Grundlage gefälschter Beweise wegen Landesverrats verurteilt worden war. In der Folge wurden in verschiedenen Ländern weitere Menschenrechtsligen ins Leben gerufen. Freimaurer gehörten regelmäßig zu den Mitbegründern — und zu den politisch Verfolgten. Hier nur eine kleine Liste von Gründungen: 1901 Belgien; 1913 Spanien; 1918 Griechenland; 1921 Polen; 1922 Bulgarien, Deutschland, Italien; 1923 Luxemburg, Rumänien und Ungarn; 1926 Österreich und Tschechoslowakei; 1928 Schweiz. Diese Ligen wurden im Prinzip in den Ländern selbst gegründet, wobei die italienische Liga im Wesentlichen im französischen Exil wirkte bzw. möglicherweise erst dort gegründet wurde. Die Gründung der internationalen Liga 1922, mit Sitz ebenfalls in Paris in den Räumlichkeiten der französischen Liga, war ganz offenkundig weiteren Ligengründungen förderlich. Hinzu kamen etliche Ligen, die ausschließlich im französischen Exil arbeiteten bzw. wo sich bislang nur Akten in den Beständen der internationalen Liga in Paris fanden’: ab 1922 armenische Liga und russische Liga; ab 1923 albanische Liga; ab 1923 georgische Liga; ägyptische Liga (1930 quellenmäßig fassbar). Zu den selbstgewählten Aufgaben zählte in erster Linie die Beobachtung der Einhaltung von Menschenrechten. Grundlage hierfür waren die beiden französischen Rechteerklärungen aus der Französischen Revolution 1789 und 1793. Da anders als heute viele Verfassungen Grund- und Menschenrechte nur indirekt ansprachen, wenn überhaupt, spielte das Ideal der Menschenrechte eine zentrale Rolle als Ausdruck eines sozialen, juristischen und politischen Zukunftsprojek:s. Von Anfang an ging es dabei auch um Frauenrechte, Kinderrechte, Verweigerung des Wehrdienstes aus Gewissensgriinden, Homosexuellenrechte sowie um Frieden und Aussöhnung. Faschismuskritik stellte einen wesentlichen Bestandteil der Debatten und publizistischen Beiträge dar. Ziel war die Demokratie als europäische Gestalt von Staat und Gesellschaft. Die Schwerpunkte, die die Ligen jeweils setzten, variierten. Soweit bisher feststellbar, hat sich etwa die österreichische Liga früh für Homosexuellenrechte eingesetzt, während das Thema bei anderen Ligen nicht auftaucht. Es ist aber zu berücksichtigen, dass für viele Ligen bisher nur eine rudimentäre Forschung vorliegt. Da etliche Ligen faktisch Exilligen waren, gehörte das Leben unter den Bedingungen des Exils zu den zentralen Themen und Problemen, die die Lebenswirklichkeiten stellten. Das heißt, es ging um Fremden- und Ausländerrechte, oft in enger Verbindung mit Aspekten der Fürsorge und Beschaffung von Arbeitsstellen. Die italienische Liga in Frankreich befasste sich hauptsächlich damit, die Probleme wurden aber auch an die internationale Liga zunehmend herangetragen. Ab 1933 vergrößerte sich der Zustrom aus Deutschland, der sich teilweise zunächst in die Ischechoslowakei und von dort unter anderem nach Frankreich orientierte. Im Pariser Archiv der französischen sowie der internationalen Liga machen Akten zu EmigrantInnen den quantitativ beinahe umfassendsten Bestand aus. Nachdem Frankreich in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre zunehmend testriktiver wurde, erlangte die juristische und fürsorgliche Unterstützung von EmigrantInnen bei den Menschenrechtsligen immer größere Bedeutung. Bei ihren Anstrengungen arbeiten die verschiedenen Ligen und Exilligen eng zusammen. Nach der Zerschlagung der deutschen Liga 1933 war etwa die österreichische Liga besonders aktiv in der Betreuung von EmigrantInnen aus Deutschland. Sie litt in der Diktatur des „Ständestaats“ aber selbst unter massiven staatlichen Repressionen und wurde streng überwacht, weshalb die Kontakte zu anderen Ligen und insbesondere nach Frankreich Rückhalt boten.“ Mehrfach protestierten die französische und die internationale Liga nach geheimen Vorabsprachen quasi stellvertretend für die österreichische Schwesterliga gegen Maßnahmen der österreichischen Regierung. Um ihre Auflösung zu verhindern, wurde darauf Bedacht genommen, dass die österreichische Liga bei diesen Aktionen im Hintergrund blieb. Nach langwierigen Verhandlungen gelang es der französischen und der internationalen Liga zudem, in einigen Fällen ProzessbeobachterInnen zu den in Folge des Bürgerkriegs 1934 abgehaltenen „Sozialistenprozessen“ nach Österreich zu entsenden. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war allerdings das Schicksal der österreichischen Liga ebenfalls besiegelt, 1938 löste sie sich selbst auf. Einigen Mitgliedern gelang die Flucht ins Ausland, unter ihnen Vorstandsmitglied Franz Kobler. Dokumente im Archiv der französischen und internationalen Liga belegen, dass ihn die beiden Vereinigungen seit Juli 1938 bei den Vorbereitungen zur Emigration nach Frankreich unterstützten.’ Der bekannte expressionistische Schriftsteller Franz Theodor Csokor, ein weiteres Führungsmitglied, ging als erste Station seines Exils nach Polen. 1940/1941 mussten auch die französische und die internationale Liga ihre Tätigkeit kriegsbedingt einstellen. Damit kam die Arbeit der europäischen Ligen de facto zum Stillstand. Sie sollte erst gegen Ende des Zweiten Weltkriegs eine Wiederbelebung erfahren.° Juni 2017 61