seiner Verwandten zu helfen vor den Konsequenzen ihre Schand¬
taten bewahrt zu werden.
Über meine Pflicht gegenüber dem jüdischen Volk und über
dessen übernationale Aufgabe bedarf ich keiner Belehrung. Aber
da leider bei Ende dieses Krieges von den 8-9 Millionen europäi¬
scher Juden voraussichtlich kaum 2-3 infolge der Massenmorde
am Leben sein werden, von denen Sie nichts zu wissen scheinen,
so kann das jüdische Volk seine Funktion außer in Palästina nur
im Westen der Welt erfüllen, nicht aber in Europa und gar in
Centraleuropa, der Ausgangsstätte der Verbrechen. Ich danke
Ihnen für den Rat, vom jüdischen Standpunkt und Interesse
nicht zu sprechen. Es ist wahr, die Kleinigkeit von 6-7 Millionen
Toten sollte nicht immer erwähnt werden, weil sonst die Mörder
vielleicht später gekränkt sein könnten.
Es gibt für mich keine Einheitsfront mit Juden, die angesichts
einer Tragödie, die noch niemals vorher in der Geschichte sich
ereignete, nur die eine Sorge haben, wie das Schicksal der Mörder
besser gestaltet werden könnte, da mindestens die Hälfte der Ös¬
terreicher für die Mordtaten verantwortlich sind. Ich bin bereit mit
jeder arischen deutschen oder österreichischen Antinazibewegung
zusammenzuarbeiten wie mit jeder anderen deutschlandfeindli¬
chen Nation. Ich bin aber nicht bereit, mit Juden über politische
Angelegenheiten auch nur zu sprechen, die den Tod fast jedes
zweiten Juden in diesem Kriege als einen Grund ansehen, dies
mit Schweigen zu übergehen.
Ich persönlich bin der Meinung, daß jeder, der einem Juden
den Rat gibt, nach Österreich zurückzukehren, und jeder, der
den falschen Eindruck erweckt, daß die Mehrzahl der Emigran¬
ten diesen Wunsch hat, die Emigranten hier in den Tod treibt.
Gegenwärtig sind 30% aller europäischen Juden und 50% der
früher deutschen und österreichischen Juden tot; 20% der pol¬
nischen Nation, 10% der czechischen, 25% der slovenischen®
sind ausgerottet, — von den fehlenden Geburten in allen Na¬
zi-besetzten Ländern abgesehen, welche allein Frankreich und
Holland eine Bevölkerungsverminderung von mindestens 15%
herbeigeführt haben. Wenn Sie glauben, daß nach dem Kriege
die Deutschösterreicher und die Deutschen, nachdem sie alle
Nationen decimiert haben, sich still und friedlich und mit Hilfe
der Juden weiterentwickeln und einen weit höheren Procentsatz
der Bevölkerung Europas darstellen sollen als vorher, dann wird
Deutschland und sein Verbündeter, Deutschösterreich, den Krieg
trotz militärischer Niederlage gewonnen haben — und dabei will
ich nicht mitwirken.
Ich und meine Anhänger, die sich schr vermehrt haben, seit wir
uns zuletzt sprachen, haben mit Österreich nichts zu tun und in
einer österreichischen Einheitsfront nichts zu suchen. Wir werden
auch nirgends, ausgenommen gegenwärtig hier, als Österreicher
angesehen, sondern überall als präsumtive Staatsbürger der Na¬
tionen, in deren Mitte sie ihre neue Heimat gefunden haben. Ich
halte es für meine Pflicht, die Engländer, die als eine Ausnahme
diese Tatsache noch nicht acceptiert haben, dazu zu bringen, sie
anzuerkennen und den Betrug zu bekämpfen, daß eine Gruppe
von Menschen, die in Österreich angesichts der „Judenreinheit“
dieses Landes, niemanden mehr repräsentieren, sich als Vertreter
des unterdrückten Österreich aufspielen und alle Refugees hier als
Österreicher abstempeln wollen, obgleich deren große Majorität
nicht im Traume daran denkt, in die Hölle zurückzukehren, die
dieses Land mit guten Gründen nach dem Kriege für lange Zeit
darstellen wird.
Es wird mich immer interessieren, mit Ihnen über Ihre persön¬
lichen Angelegenheiten zu sprechen.
Ihr freundschaftlich ergebener
Rudolf Bienenfeld
Otto Harpner an Rudolf Bienenfeld
Dr. Otto Harpner,
Elmhurst
Huntington Rd., Cambridge.
Tel 76339.
November 1942
Herrn Dr. Rudolf Bienenfeld,
Präsidenten des jüdischen Weltkongresses für Österreich, London.
Sehr verehrter Herr Dr. Bienenfeld,
Zwei Ereignisse haben meinen Entschluß zum Reifen gebracht,
aus meiner bisherigen Reserve gegenüber der österreichischen
Emigrationspolitik welcher Färbung und Benennung immer he¬
rauszutreten! Das eine Ereignis war die dynamische Entwicklung
des Kriegsfortganges, wie sie in den Ereignissen im Mittelmeer¬
becken zum deutlichsten Ausdruck kam; das andere Ereignis war
Ihr Vortrag in der Jacob Ehrlich Gesellschaft, dessen Abdruck mir
dieser Tage zugegangen ist.
Ich habe meinen Entschluß in einem Memorandum Form
gegeben, in welchem ich meine Überzeugungen über die unmit¬
telbaren Anforderungen der österreichischen Emigrationspolitik
festzuhalten versuche. Ich lasse dieses Memorandum an drei Stellen
ergehen: an das sogenannte Free Austrian Movement zu Handen
von Frau Eva Kolmer; an den Leiter der sogenannten ofhiziellen
socialistischen Gruppe österreichischer Emigration; und an Sie
in Ihrer Eigenschaft als berufener Exponent der betont jüdischen
Emigranten.
Da ich vor allem für eine einheitliche Politik österreichischer
Emigranten eintrete, schiene mir meine Arbeit unvollständig,
würde ich unterlassen, zu versuchen, mich mit Ihren Argumenten
auseinander zu setzen, wie sie nicht nur in Ihrem Vortrage, sondern
auch in gemeinsamem wiederholten Meinungsaustausch zum
Ausdrucke gekommen sind. Vielleicht darfich den Ausdruck „Aus¬
einandersetzung“ sogar abschwächen. Es handelt sich mir darum,
Ihnen neuerlich Argumente vorzutragen, welche mir eine richtige
Politik österreichischer Emigration mit einer korrigierten Politik
betont jüdischer Elemente durchaus vereinbarlich zu machen
scheinen. Hiebei scheint mir das Problem von dem, in meinem
Schreiben an Dr. Oskar Pollak behandelten, der Verständigung
mit den Sozialisten noch dadurch unterschieden, daß ich mir sehr
wohl denken kann, daß eine zionistisch-österreichische Gruppe
eine begründete Berechtigung aufein gesondert bleibendes Dasein
zu vertreten vermag. Wenn ich auch nicht wage, zu versuchen,
berufenerem Urteile, wie insbesondere dem Ihrigen, in der Ent¬
scheidung der Frage vorzugreifen, ob die, von mir anerkannten,
Aufgaben einer zionistischen Gruppe besser in- oder außerhalb der
österreichischen Emigrationsbewegung verfolgt werden; so fühle
ich mich zum Eintreten für eine andere Überzeugung verpflichtet:
daß weder die Situation der österreichischen Emigration, noch
der Welt gestattet, statt einer koordinierten Emigrantenpolitik,
zwei oder gar drei einander in den Haaren liegende Politiker