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Umso größer war mein Entsetzen, als ich las, wie WP Tucholsky mit Hitler verglich, diesen Vergleich „mit sinnwidrigen, aus dem Kontext gehobenen Zitaten“ zu belegen suchte und schrieb: „Der internationalistische Hasser, Kurt Tucholski meinte, den Menschen seines deutschen Gastlandes gesamthaft den Gastod wünschen zu müssen, weil sie ihm viel zu nationalistisch dachten.“ Obwohl „Die Gemeinde“ nicht im freien Verkauf erhältlich war, wurde der IKG Wien und mir im März 1995 eine Klage Pfeifenbergers zugestellt, mit der er „Unterlassung“ und als eventuelle Entschädigung 240.000 ÖS forderte.‘ Er behauptete: „Für den Kläger, der an der Universität Münster Politikwissenschaft lehrer’, sind diese chrenrührigen und sachlich völlig ungerechtfertigten Vorwürfe im Hinblick auf einen persönlichen Kredit und sein berufliches Forckommen ganz besonders schädigend.“ Kurze Zeit nach der Unterlassungsklage erhielt ich vom Wiener Landesgericht für Strafsachen einen Strafantrag des Klägers wegen „übler Nachrede“.° Zu meinem großen Erstaunen las ich in der Klage unter anderem: Es sei sachlich nicht gerechtfertigt, von einer „Mär vom jüdischen Krieg gegen Deutschland“ zu schreiben, „weil es derartiges vom gedanklichen Ansatz her tatsächlich gegeben habe“. Ich versuchte verschiedene Medien in Österreich auf die bevorstehenden Prozesse aufmerksam zu machen, mit wenig Erfolg. Als ich die Vorladung zur Prozesseröffnung am 4. Juni 1995 erhielt, versprach mir — nach langem Zureden - Julia Albrecht von der Berliner Tageszeitung (TAZ) an diesem Tag über den Prozess zu berichten. Noch am gleichen Nachmittag führte der WDR das erste Interview mit mir, andere sollten folgen. Hingegen hat der ORF lange über meine Prozesse geschwiegen. Das Ihema „Tucholsky“ nahm in den Prozessen einen breiten Raum ein. WP versuchte verzweifelt und rabulistisch zu beweisen, dass der in Berlin geborene Schriftsteller kein Deutscher gewesen sein könne, weil er das deutsche Kaiserreich, die Weimarer Republik und die damalige Justiz zum Teil schr scharf kritisierte. Und er glaubte, dafür auch jüdische Quellen heranziehen zu müssen. Sein „jüdischer“ Kronzeuge war ein gewisser Horst Lummert, der nach eigener Angabe im Prozess gegen den Gaskammer-Leugner Germar Rudolf als Zeuge der Verteidigung auftrat. Das Oberlandesgericht meinte dazu, es sei ohne Belang, ob Behauptungen des Klägers „auch in Werken jüdischer Autoren oder sonstiger ‚NS-unverdächtiger‘ Literatur zu finden“ seien. Weiters suchte der damals noch amtierende Hochschullehrer in seiner den Nationalsozialismus entlastenden Darstellung, welche die wissenschaftliche Geschichtsschreibung verhéhnte’, die europäische Geschichte als geprägt durch die Todfeindschaft des Internationalismus gegenüber dem Nationalismus zu charakterisieren. Den Begriff „Internationalist“ verwendete er als Synonym für „Jude“. WP (1995, S. 498) beklagte das Einsickern des orientalischen (jüdischen) Messianismus in Gestalt des „missionarisch-offensiven Frühchristentums“ und meinte, das wesentliche „Kennzeichen dieses gedanklichen Fremdkörpers war schließlich die ausgeprägt sozialistische Weltanschauung, die als orientalische Denkungsart erst durch das Urchristentum in die klassische Welt gelangte und von der metaphysischen Gleichheit aller Menschen ausging“. Paulus — so WP (ebd., S. 499) — „sammelte die gesellschaftlichen Aussteiger seiner Zeit (...) in dem Bestreben, eine Erhebung der Minderwertigen zu schüren.“ Uber das Papsttum gelangte er zur Französischen Revolution, von der er behauptete, auch sie sei von Juden geführt worden. Hinter der Französischen und der Amerikanischen Revolution steckten — so Pfeifenberger — die Freimaurer und andere Geheimgesellschaften. In diesem Sinne ging es weiter bis zur „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten, die er mit Begeisterung schilderte, wobei er sich — ohne jede Distanz — auf Reichspropagandaminister Joseph Goebbels stützte und aus dessen Buch „Kampf um Berlin — Der Anfang“ zitierte.® Die Behauptung, dass die „Umerzieher“ den Deutschen ihr Geschichtsbewußtsein nehmen wollten — ein rechtsextremes Standardargument - fand sich bei WP gleichfalls. Er argumentierte wie die Neonazi, wenn auch verschlüsselt, gegen das Verbotsgesetz, wobei er die Novellierung des NS-Verbotsgesetzes auf die Waldheim-Diskussionen 1986 zurückführte. Der zuständige Richter am Landesgericht für Strafsachen Dr. Werner Röggla beauftragte im November 1995 den Historiker Prof. Dr. Rudolf Ardelt mit einem Gutachten, das prüfen sollte, ob die inkriminierten Aussagen meiner Rezension zuträfen. Mitte März 1997 legte Ardelt das Gutachten? vor und traf folgende Feststellungen: Mit Recht könne gesagt werden, „daß in der Publikation des Klägers ‚Nazi-Töne‘ zu finden seien“. Darüber hinaus enthalte sie „eine Darstellung des Faschismus und insbesondere des Nationalsozialismus, die nach Auffassung des Sachverständigen eine klare und eindeutige Rechtfertigung des NS-Regimes darstellt“. Was die Beurteilung der Nazibarbarei angehe, sei „eine klare Tendenz zur Minimierung der Terrorund Gewaltdimension des NS-Regimes zu finden, hingegen aber auch eine klare Tendenz, in der Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg ‚Juden‘ eine Schlüsselrolle zuzuschreiben. Damit setzt der Autor als Kläger die (...) antisemitische Argumentationslinie auch in Bezug auf den Nationalsozialismus fort, ja verkehrt die ‚Täter‘-‘Opfer‘-Rolle durch die verfälschende Darstellung der sog. ‚Kriegserklärung‘ 1933.“ Weiter hieß es: „Tatsächlich kann zu Recht gesagt werden, daß sich der Kläger in seinem Artikel mehrfach einer Terminologie bedient, die nicht als ‚wissenschaftlich‘ bezeichnet werden kann, sondern für den Bereich der ideologischen Formen sogenannter ‚völkischer‘, d.h. nationalistischer Organisationen rechtsextremistischer und rechtsradikaler Art, sowie darunter auch für die NSDAP, kennzeichnend war und ist.“ Daher ist „festzuhalten, daß die Ausführung des Klägers hinsichtlich Kurt Tucholsky in Bezug auf den Terminus ‚Gastland‘ in klarer Übereinstimmung mit nationalsozialistischer Terminologie steht und zurecht als ‚Nazidiktion‘ bezeichnet werden kann“. Dr. Werner Röggla sprach mich am 18. September 1997 frei und wies die Anträge Pfeifenbergers kostenpflichtig ab. Er bestätigte, meine „Vorwürfe haben sich als wahr erwiesen“. Bereits Mitte August 1997 hatte ich das schriftliche Urteil des Wiener Handelsgerichts erhalten, das Pfeifenbergers Klage kostenpflichtig abwies. Richter Friedrich Heigl, der keinen Experten bemühte, resümierte: „Vor dem Hintergrund der Geschichte des 20. Jahrhunderts ist es wichtig den Anfängen zu wehren und Artikel wie jene des Klägers aufzuzeigen und zu kommentieren.“ Sowohl die regierende SPÖ als auch die Grünen wandten sich bezüglich des Freiheitlichen Jahrbuchs 1995 und insbesondere des Artikels von Pfeifenberger mit einer parlamentarischen Anfrage an den parteilosen, von der SPÖ nominierten Justizminister Dr. Nikolaus Michalek. Dieser berief sich in seiner Antwort auf die Staatsanwaltschaft, die sich jedoch nicht veranlasst sah, gegen Juni 2017 79