OCR
Militäroperation gegen die Hungerstreikenden in den Eilmeldungen „Rückkehr ins Leben“ genannt wird. Aber ich wachse geschützt auf, als unbeteiligte Zuschauerin dieser Ereignisse. Weder kenne ich die verdunkelten Nächte oder den Kugelhagel an die Mauern meines Hauses, noch habe ich einen entführten Vater oder werde gezwungen, in einer Fremdsprache lesen und schreiben zu lernen wie gleichaltrige Kurdinnen und Kurden. Ich wachse als „weiße“, türkische Elite auf. Dann die Jahre an der Universität, die Bewegung der Studierenden, die Praktika als angehende Anwältin. Der Prozess zum SivasMassaker wird wegen Verjährung eingestellt, als ich schon Anwältin bin. Die meisten Anwälte, die die am Massaker beteiligten religiösen Fundamentalisten verteidigen, werden Abgeordnete der AKP. Die Prozesse um die Ermordung der GefängnisinsassInnen im Hungerstreik hingegen schleppen sich seit 15 Jahren dahin. Jahre vergehen und ich engagiere mich in Fällen, in denen es um Massaker und Staatswillkür geht. Wenn du dich dabei nur auf das verlassen würdest, was du an der juristischen Fakultät gelernt hast, würdest du den Verstand verlieren. Aber deine Ausbildung hat ja nicht auf der Uni begonnen, sondern als Kind mit den Hauptnachrichten. Du bist gefangen in einer Parodie. Und du wirst davon mitgezogen, weil es nie aufhört. Junge Menschen werden am helllichten Tag von der Polizei ermordet. Junge Menschen werden festgenommen und verschwinden, ihre Eltern, die sich auf die Suche machen, von der Polizei zusammengeschlagen. Die Bilder ändern sich nicht, egal, wer regiert. Wasserwerfer, Pfefferspray, Plastikkugeln... Verhaftete JournalistInnen, Studierende, AutorInnen, RechtsanwältInnen.... Mit der Zeit werden diese Vorfälle zu kleinen beiläufigen Informationen, die man in alltäglichen Gesprächen mit einem „Übrigens...“ in einem Nebensatz erwähnt. Und natürlich zeugt diese Kontinuität auch davon, dass es immer noch Menschen gibt, die gegen die Repression Widerstand leisten. Mit den Aktionen am Gezi Park atmen wir alle - wie ein einziger großer Körper - auf. Und was für ein Aufatmen... Wir kommen mitten in Istanbul auf einem Platz und in einem Park zusammen, wo ich mich kurz davor wahrscheinlich nicht sicher gefühlt hätte, hätte ich ihn in der Nacht durchqueren müssen. Die Bewegung des Gezi Parks entsteht nicht aus einer Reaktion auf die Massaker und die Staatswillkür, sondern weil man das Gefühl hat, nicht mehr frei atmen zu können. Sie entsteht aus Wut, aus dem Wunsch, „Es reicht!“ zu sagen. Weil der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und seine AKP-Regierung anfangen, ihre jahrelangen repressiven Praktiken um eine Facette zu erweitern und versuchen, unsere Lebensräume zu zerstören und sich in unseren Alltag einzumischen. Egal ob es das Recht auf Abtreibung ist, egal ob es die Wohnungen sind, in denen wir leben, und die Entscheidung, mit wem wir darin leben, egal ob es unsere Entscheidungen sind, was wir trinken oder was wir anziehen, wir spüren den Atem des religiösen Fundamentalismus immer stärker im Nacken. So entsteht die Bewegung des Gezi Parks nicht nur wegen der Frage, ob dieser Park zerstört wird oder ob wir es noch verhindern können, sondern vor allem deswegen, weil der Widerstand gegen die Zerstörung des Parks zu einem Symbol für den Existenzkampf der einen Hälfte der Bevölkerung wird. Die Gezi-Bewegung wird mit viel Gewalt von der Polizei zerschlagen. Gleichzeitig wird eine zivile Reaktion gegen die 84 ZWISCHENWELT Bewegung inszeniert, deren gemeinsamer Nenner eben der religiöse Fundamentalismus ist. Die Unterdrückung der Bewegung führt dennoch nicht unbedingt zum Gefühl, verloren zu haben. Im Gegenteil, wir — die eine Hälfte der Bevölkerung - lernen trotz aller Verluste einander zu vertrauen, uns zu verstehen, uns mit Empathie zu begegnen. Und der Park bleibt bestehen. Darauf folgt ein Marathon an Wahlen: die Wahl des Staatspräsidenten, die regionalen Wahlen und dann die Parlamentswahlen vom 7. Juni 2015. Selbst wenn sich darin nicht die Gesamtheit der Bündnisse der Gezi Park-Bewegung widerspiegelt, so ist Wahl vom 7. Juni doch auch eine Folge davon. Die HDP — die Demokratische Partei der Völker —, die gleichzeitig die demokratischen Rechte des kurdischen Volkes und das Versprechen einer gesellschaftlichen Ordnung, die säkular, demokratisch und menschenrechtszentriert ist, in den Fokus ihrer Politik stellt, überwindet die ZehnprozentHürde. Und dann geht die Zeit der Bomben los - angeführt von Recep Tayyip Erdogan, mittlerweile Staatspräsident. Während auf den Straßen die Bomben explodieren, versucht man gleichzeitig den öffentlichen Raum mit den Codes des religiösen Fundamentalismus neu zu definieren, und dies mit Erfolg. Die Menschen haben nicht die größere Angst vor öffentlichen Verkehrsmitteln, weil dort eine Bombe hochgehen könnte. Sie fürchten sich viel mehr davor, als Mann mit langen Haaren beispielsweise oder als Frau mit kurzem Rock von Fundamentalisten, die offensichtlich vom Staat geschützt und unterstützt werden, angepöbelt und angegriffen zu werden. In Surug werden junge Menschen, die wir kennen, während einer simplen Presseerklärung durch eine Bombe in tausend Stücke gerissen. Wir sind ZeugInnen, wie in Ankara Menschen, unsere FreundInnen, die sich fiir Frieden und Geschwisterlichkeit der Völker versammelt haben, in die Luft gesprengt werden. Es ist kaum möglich, mit Worten zu beschreiben, was wir in Sur oder Cizre sehen und bezeugen müssen. Die toten Körper von Kindern, die man in Kühlschränken aufbewahren muss, weil sie nicht bestattet werden können. Die Leiche einer erschossenen Frau, die mitten auf der Straße liegt, mit ihrem Baby im Arm... Und während dies alles neben dir passiert, wartet die Verhaftung auf dich, nur weil du deine Trauer öffentlich geäußert hast. Und dazu die Gewissheit, dass es keine Rechtssicherheit mehr gibt und du nicht einschätzen kannst, wohin diese Verhaftung führen wird. Und dann der Putschversuch. Und die Gebetsrufe aus den Moscheen überall im Land, die noch während der Nacht zu erklingen beginnen. Wer weiß, wie das in diesem Chaos in so kurzer Zeit mitten in der Nacht organisiert werden konnte... Das Gefühl, mitten in einem Horrorfilm gelandet zu sein. Der Moment, auf den Recep Tayyip Erdogan und die AKP-Regierung gewartet haben, die Ausrufung des Ausnahmezustandes. Die Gesellschaft in der Türkei ist gespalten und rasend. Auf der einen Seite diejenigen, die die Todesstrafe fordern, ohne zu wissen für wen und wofür, die, die entgegen all ihren konservativen Weltanschauungen Gesetzesentwürfe beklatschen, die die Verheiratung von Kindern mit ihren Vergewaltigern legalisieren, nur um die AKP und Erdogan zu verteidigen... Und auf der anderen Seite diejenigen, die in diesem Treiben von einem schmerzhaften Moment zum nächsten geschleudert werden, die nicht einmal die Möglichkeit haben, ihre Wut auf eine einzige Sache zu fokussieren, die von den Mächtigen „Feinde“ und die „Anderen“ genannt werden. Diese zweite Gruppe, wie manche sagen: die 50%, führt