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berichtete er über die Probleme der ungarischen Gesellschaft, den sinkenden Lebensstandard, die Verfolgung der katholischen Waffendienstverweigerer und die Vorstellungen und Konzepte von intellektuellen Opponenten, Schriftstellern und Soziologen. Eine Auswahl dieser einzigartigen Zeitdokumente ist im vorliegenden Sammelband nachzulesen. Die Reaktion des Kädär-Regimes ließ nicht lange auf sich warten: Insgesamt dreimal wurde Karl Pfeifer aus Ungarn ausgewiesen und einmal mit einem Einreiseverbot belegt. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus zeigte sich die Wirkungsmacht unbearbeiteter Geschichte: Die Mitverantwortung der ungarischen Gesellschaft für die Ermordung von 550.000 Jüdinnen und Juden wird vielfach relativiert oder verleugnet. Der im Friedensvertrag nach dem Ersten Weltkrieg begründete Opfermythos einer sich sprachlich und ethnisch isoliert fühlenden Nation ist Triebkraft fiir einen Chauvinismus, der sich als einfache „Lösung“ der Probleme anbietet und jüngst auch von der Regierung Orbän immer häufiger instrumentalisiert wird. Antiziganismus und Antisemitismus sind dabei logische Begleiterscheinungen, die durch gewaltbereite Gruppen einen höchst bedrohlichen Zustand erreicht haben. Nach 1990 hat Karl Pfeifer die Mühe auf sich genommen und istzum mutigen und unermüdlichen publizistischen Chronisten dieser Entwicklungen geworden. Konnte man im ersten Jahrzehnt nach der demokratischen Wende noch hoffen, dass es sich dabei um extreme Begleiterscheinungen handelt, demonstriert spätestens das System Orbän, dass diese Exzesse in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Dass es so bleibt, dafür sorgt eine Politik der fortwährenden Aushöhlung der Demokratie, der Verfügungsmacht über Medien bei gleichzeitiger Beschränkung einer demokratischen Öffentlichkeit und der Etablierung eines auf Oligarchen gestützten politischen und wirtschaftlichen Machtkartells, das jeden Gedanken an einen politischen Wechsel für absehbare Zeit als utopisch erscheinen lässt. Angesichts dieser Rahmenbedingungen und einer gelähmten Opposition und Zivilgesellschaft kann sich von oben betriebene populistische Demagogie stets legitimiert fühlen und Mehrheiten gewinnen. Das in parlamentarisch-demokratischen Systemen übliche Wechselspiel der Ablösung von Regierungs- und Oppositionsparteien ist damit ausgehebelt und der Weg zum autoritären Staat offen. Der Geschichtsrevisionismus erfüllt dabei eine wichtige Rolle bei der ideologischen Fundierung des Umbaus von Staat und Gesellschaft. Es ist das große Verdienst Karl Pfeifers, in seinen Berichten darauf besonderes Augenmerk zu richten. Die Rehabilitierung Horthys, die Verklärung des Kampfes von ungarischen Soldaten an der Seite Nazideutschlands und die Verherrlichung des Bischofs Ottokär Prohäszka, der einen rassistischen Antisemitismus praktizierte und dem nun Denkmäler gesetzt werden, sind mittlerweile offizielle Politik geworden. Die vulgären Hasstiraden („Juden als sinkende Exkremente“) des Fidesz-Mitbegründers und Orbän-Freundes Zsolt Bayer bleiben nicht nur unwidersprochen - im Gegenteil: Eine FideszStadtverwaltung übernahm seine Anwaltskosten und ein Komitat zeichnete ihn mit einem Preis aus. Antisemitische Schriftsteller der Zwischenkriegszeit werden wieder in die Schullehrpläne aufgenommen. Und da „echte“ Ungarn keine Kommunisten sein können, kann die verflossene Diktatur nur eine Kreation von Juden gewesen sein. Um sich nicht auf die Geschichte beschränken zu müssen, sucht sich die Regierung Orbän neuerdings Woche für Woche George Soros als Objekt ihrer antisemitischen Phantasmagorie aus. Karl Pfeifers beklemmende Artikel sind Protokolle eines Dammbruchs. Vielleicht ist noch nicht auszumachen, wie irreversibel dessen Schäden in Ungarn sein werden. Aber die Beiträge können ebenso als warnendes Zeichen an der Wand gelesen werden. Auch gefestigtere Demokratien sind vor solchen Prozessen nicht gefeit und das postnazistische Österreich darf die aus seiner historischen Last resultierenden Risken nicht unterschätzen. In der Zweiten Republik wurde mit diesem explosiven Potential bereits mehrmals erfolgreich Politik gemacht. Heimo Gruber Karl Pfeifer: Immer wieder Ungarn. Autobiographische Notizen, Nationalismus und Antisemitismus in der politischen Kultur Ungarns — Texte 1979 bis 2016. Berlin: Edition Critic 2016. 155 5. € 15,50 „Nichts haben wir gewusst. Es ist alles schön verschwiegen worden“ und „Ich habe von all den schrecklichen Dingen ein bisschen mehr mitgekriegt als der gewöhnliche Mensch“. „Wir kriegten wohl mal mit, wenn ein berühmter Schriftsteller einen Brief geschrieben hatte mit einer unguten Bemerkung über Hider oder Goebbels. Er wurde festgenommen und erschossen. Der wurde gleich hingerichtet. Solche Sachen, so was kriegt man schon mit.“ Diese Worte stammen von Brunhilde Pomsel, einer der Sekretärinnen des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels. Den ersten Satz spricht sie in dem Film „Ein deutsches Leben“, die weiteren finden sich darin nicht, wohl aber in der Buchpublikation von Thore D. Hansen mit dem gleichnamigen Titel, zusammengesetzt aus den Interviewsequenzen mit ihr. Brunhilde Pomsel war zum Zeitpunkt der Interviews 2013 und 2014 103 Jahre alt — mittlerweilen ist sie verstorben. Die Intention der Filmemacher und des Herausgebers erfahrt man bereits im Untertitel des Buches: ,, Was uns die Geschichte von Goebbels Sekretärin für die Gegenwart lehrt.“ Entstanden sind dabei aber zwei verstörende und ärgerliche Produkte. 92 — ZWISCHENWELT In Schwarzweiß-Großaufnahmen sieht man im Film das zerfurchte Gesicht einer sehr alten Frau, die erzählt, Pausen macht und darin offensichtlich nachdenkt, um die passenden Worte zu finden. Sie erzählt über ihre Jugend, ihre Arbeit bei einem jüdischen Versicherungsmakler, ihren nationalsozialistischen Jugendfreund, der sie schon vor 1933 zu einer Goring-Rede mitnimmt, ihre Arbeit fiir den nationalsozialistischen Schriftsteller und Radiosprecher Wulf Bley (der unter dem Pseudonym W.H. Hartwig NS-affine Schriften produziert). Aber auch von ihrem Jubel am Brandenburger Tor bei Hitlers Machtergreifung 1933, ihrem Parteieintritt in die NSDAP. ihrer sich daraus ergebenden Arbeit beim Rundfunk und ab 1942 im Reichspropagandaministerium. Sie sieht sich dabei als Randfigur, bestenfalls als Mitläuferin, aber gegen Ende des Filmes auch als Opfer. Fünf Jahre wird sie in den sowjetischen Lagern Buchenwald und Sachsenhausen interniert. Sie kann sich nicht eingestehen, dass sie eine opportunistische Profiteurin des NS-Terrorregimes war. Und auch von den Nazigräueln will sie erst nach ihrer Enthaftung 1950 erfahren haben. Zwischen ihren Erzählungen montieren die Filmemacher Originalaufnahmen von Amateuren, NS-Propagandafilmen, US-Wochenschauen usw. Dazu spater. Verstörend ist den ganzen Film hindurch der Eindruck, dass hier eine alte Dame die Filmemacher für ihre Sicht der Dinge gewinnen will. Nichts hat sie gewusst, Politik hat sie nicht interessiert, sie hat bloß ihre Arbeit, sie nennt es ihre „Pflicht“, getan, und wenn sie irgendwie schuldig sein sollte, dann nur im Sinne einer Kollektivschuld. Die offensichtlich stark geschnittenen Interviewsequenzen unterstützen dieses Narrativ. Auch werden die Fragen der Interviewer ausgeblendet und Pomsels Aussagen verkürzt wiedergegeben, wie ein Vergleich mit dem Buch zeigt. Dass es sich bei Brunhilde Pomsel nicht nur um eine opportunistische Mitläuferin, sondern um eine Profiteurin des NS-Regimes handelt, wird also, so gut wie möglich, verschwiegen. Als sie am 30. Jänner 1933 vorm Brandenburger Tor in der Menge steht („Natürlich habe ich dem Führer zugejubelt“), kann sie selbstverständlich noch nicht wissen, was folgen wird, und betont dies auch im Interview. Zu dieser Zeit arbeitet sie noch beim jüdischen Versicherungsmakler Dr. Goldberg in dessen Kanzlei und erzählt ihm natürlich nichts von ihrer Begeisterung für Hitler. Warum wohl? Ihre heutige Begründung: „Ich