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Infrastruktur und mehr Kinder besuchen die jüdischen Schulen. Cohen-Weisz geht ausführlich auf die rechtlichen Rahmenbedingungen der jüdischen Gemeinden in Österreich und Deutschland nach 1945 und ihre Neuverhandlungen mit dem Abschluf des Staatsvertrags 2003 in Deutschland und der Neufassung des Israelitengesetzes in Österreich 2012 ein. Sie beschreibt die Sonderstellung der liberalen Gemeinde Or Chadasch und einen Konflikt mit der chassidischen Gruppe Chabad. Als Beispiel für das erstarkte Selbstbewuftsein der Wiener jüdischen Gemeinde unter Ariel Muzicant schildert sie deren erfolglosen Prozeß gegen den Staat Israel über die Rückgabe des Gemeindearchivs, das als Dauerleihgabe ab 1952 an die Central Archives for the History of the Jewish People in Israel transferiert wurde. Der rechtsgeschichtliche Teil ist ein Novum in der bisherigen Literatur und der verdienstvollste Teil des Buches. Allerdings fehlt in der Literaturliste ein wichtiger Titel zum Thema, die Studie: Zwischen den Gefühlen, Wann man beginnt, alles infrage zu stellen? Das ist schleichend passiert. Bei mir. [...] Aus der Freude über das Neue wurde Angst vor der Zukunft, bei Papa und bei Mama. Bei mir eigentlich nicht. Es fühlt sich nach Zukunft an hier. In dieser Sprache. In diesem Haus. An diesem Ort. Ich weiß, ich habe eine Zukunft hier. Die will ich nicht infrage stellen. Aber andere Dinge stelle ich infrage. Die Debatten der letzten Jahre über die sogenannte „Flüchtlingskrise“ haben es mit sich gebracht, dass die mediale Berichterstattungen und die parteipolitischen Spiegelfechtereien die wirklichen Erfahrungen, Geschichten und Nöte der geflüchteten Menschen vereinnahmt, vereinfacht und in ein generelles Diskussionsthema verwandelt haben, dessen Inhalt nicht mehr die menschliche Dimension ist, sondern die gesellschaftliche oder die wirtschaftliche oder die rechtliche. Aber in solchen Abstraktionen verschwimmen nicht nur die Grenzen zwischen gerechter und selbstgerechter Beurteilung, zwischen Verantwortung und Verpflichtung, es verschwimmen auch die natürlichen Anknüpfungspunkte — die Möglichkeit, den Schicksalen als fühlendes Individuum zu begegnen, nicht als Steuerzahlende/r, Angehörige/r einer bestimmten Kultur, Staatsangehörige/r, etc. Gute Geschichten können davor bewahren. Sie sind eine Möglichkeit sich einer Erfahrungswelt zu nähern, in sie einzutauchen und in der Begegnung mit dieser Welt eine Sensibilität für Lebensumstände zu entwickeln, die man selbst vielleicht nie aktiv erlebt hat, die aber so nah an einen herangetragen werden, dass man genügend Eindrücke für seine Vorstellungskraft hat und ebenso viele Erschütterungen, die zu Bruchstellen in den eigenen Vorurteilen führen. 96 _ ZWISCHENWELT Jens Budischowsky, „Die staatskirchenrechtliche Stellung der Israeliten“ (1995). Auch sonst ist die verwendete Literatur sehr selektiv. So fehlen die grundlegenden Studien über den Aufbau der drei größten deutschen Gemeinden Berlin, Frankfurt am Main und München von Jael Geis, Alon Tauber und Juliane Wetzel. Das letzte Kapitel behandelt „European-Jewish Identity and Cooperation“. Hier vermisst man ebenfalls einen Hinweis auf die vielen Publikationen von Diana Pinto über eine europäischjüdische Identität oder wichtige Literatur wie den Sammelband von Sandra Lustig & Ian Leveson, , Turning the Kaleidoscope. Perspectives on European Jewry“ (2006). Paul Grosz, Ariel Muzicants Vorgänger als Präsident der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde, wird als Rückkehrer bezeichnet, was er nie war. Er überlebte die NS-Zeit als Zwangsarbeiter in Wien und ging erst nach der Befreiung in die USA. In der Form des Jugendbuches hat Julya Rabinowich eine Möglichkeit gefunden, Aktuelles und Übergreifendes klug miteinander zu verbinden und ohne erhobenen Zeigefinger oder inhaltliche Agitation von der menschlichen Dimension einer Geflüchteten-Geschichte zu erzählen und uns Einblicke in die damit verbundene Erfahrungswelt zu vermitteln — eine Erfahrungswelt, die sich aus zweierlei Sphären zusammensetzt: Einerseits den Erfahrungen der Pubertät - Konflikte mit Eltern und FreundInnen und dahinter der Versuch einer Verortung des eigenen Denkens und Fühlens — und andererseits den Erfahrungen der Vergangenheit - eines Krieges, einer Flucht, eines Neuanfangs, einer schwierigen und oftmals belastenden Anpassung. Beiden Sphären ist gemeinsam, dass sie eine große Sehnsucht nach Anbindung zur Folge haben, den Wunsch, eine Heimat, einen Platz zu finden, von dem aus sich so etwas wie ein eigenes Leben entwickeln kann, eine selbstbestimmte Größe. Damit man nicht immer nur „dazwischen“ ist mit seinen Möglichkeiten, seinem „Ich“. Und es ist echt hart, das zu wissen. Ich werde nie sein wie die. Sogar wenn ich die tollste Ausrüstung hätte und ein schönes eigenes Zimmer und täglich zum Friseur liefe. Meine Angst wäre noch da. Mein Ducken, wenn sich jemand zu schnell in meiner Nähe bewegt. Ich muss mich daran gewöhnen. Einfach nie so sein zu können wie die anderen mit ihren schönen Sachen. Und ihrem selbstbewussten Lachen. Madina ist fünfzehn Jahre alt und lebt mit ihren Eltern, ihrer Tante und ihrem kleineren Bruder in einer Auffangunterkunft. Vorher lebten sie in einer Kriegsregion, ihr Vater verarztete in seinem Keller eine große Anzahl von Verwundeten Zwei wichtige Personennamen sind falsch geschrieben: der Wiener Oberrabbiner David Feuchtwang wurde zu David Feuchtwanger und der in Basel und Jerusalem lehrende Historiker Alfred Bodenheimer zu Alfred Bodenheim. Noch peinlicher aber ist, dass Heinz Fischer zu Österreichs „Prime Minister“ wurde. Das Buch enthält einen Personenindex, in dem jedoch zahlreiche Personen aus nicht nachvollziehbaren Gründen ausgelassen sind. Der Vater der Autorin Willy Weisz ist Informatiker an der Universität Wien und jüdischer Vizepräsident des Koordinierungsausschusses für jüdisch-christliche Zusammenarbeit. Er ist auch eine der zahlreichen Personen, die im Anhang des Buches als Interviewpartner aufgelistet werden. EA. Susanne Cohen-Weisz: Jewish Life in Austria and Germany since 1945. Identity and Communal Reconstruction. Budapest: Central European Press 2016. 423 5. € 52,und musste schließlich fliehen, weil er sich mit seinem Einsatz in Gefahr gebracht hatte. Die Familie wartet auf einen Asylbescheid, solange muss sie in einem Zimmer mit drei Matratzen leben. Madina geht zur Schule und hat eine sehr gute Freundin, Laura, neben ihrer Familie ihre wichtigste Bezugsperson. Nicht nur, weil sie eine große Sympathie miteinander verbindet, sondern auch, weil die Freundschaft zu Laura eine Tür zu einer bestimmten Art von Freiheit darstellt, ein Anschauungs- und Anknüpfungspunkt für die Möglichkeiten, sich in dem neuen Land einzuleben und zu verhalten. Das Buch gibt sich als Tagebuch aus, in dem Madina ihre Erlebnisse verarbeitet, manchmal in längeren Einträgen, manchmal mit kurzen Kommentaren, später auch mit Geschichten, die einen märchenhaften Einschlag haben. Rabinowisch tastet sich am Anfang sehr gut in diese Form der Darstellung hinein, wie sich auch die Jugendliche ins Schreiben tastet, in einer Sprache, die sie zwar bereits gut beherrscht (sie dolmetscht für die Mitglieder ihrer Familie, auch bei offiziellen Stellen und übersetzt für sie die Schriftstücke), aber in der sie dennoch unsicher ist. Einfache Hauptsätze, die man eigentlich auch zu Nebensatzkonstruktionen ausbauen könnte, treten am häufigsten auf; Wendungen werden zwar eher selten abgetastet, aber man spürt, dass sich die Autorin sehr viel mit dem Bewusstsein von Sprache beschäftigt hat, das durch ihre Protagonistin zum Ausdruck kommt. Wie viele andere jugendliche TagebuchschreiberInnen ist Madina eine gute Beobachterin. Ihren Aufzeichnungen entgeht wenig. Sie sind allerdings nicht nur ein Sammelbecken dessen, was sich jeden Tag im Leben ihrer Familie und ihrer FreundInnen tut, sondern auch