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Josef P. Mautner Unbehaust. Funf Tage im Februar. Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn hat nichts, da er sein Haupt hin lege. (Matthäusevangelium 8, 20) Eins Wir befinden uns am 42. Breitengrad, ungefähr auf der Höhe von Barcelona. Aber es ist bitter kalt. Der Kleinbus rumpelt über eine gefrorene Masse von Matsch und Schnee, die die Straßen von Plovdiv bedeckt. Manches wirkt bekannt, vieles fremd. Ich bin nicht zum ersten Mal hier. Erinnerungen werden wach. Die Plattform für Menschenrechte Salzburg arbeitet mit der RomaStiftung Stolipinovo seit fast drei Jahren in einer Partnerschaft zusammen. Wir entwickeln gemeinsam Projekte für Empowerment und Antirassismusarbeit hier vor Ort. Asen Karagyosov, der Leiter des Jugendclubs der Stiftung, hat uns im Hotel abgeholt und bringt uns nach ‚Stolipinovo‘: Es ist eines der größten Stadtviertel in Südosteuropa, das ausschließlich von Roma bewohnt wird. Sein Name steht für die Situation einer großen ethnischen Minderheit Europas: Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, Diskriminierung und Rassismus. Viele Städte in Bulgarien haben mehrere Viertel, in denen ausschließlich Roma leben. In Plovdiv sind es vier, und Stolipinovo ist eines von ihnen. Es hat geschätzte 55.000 EinwohnerInnen. Eine genaue Zahl lässt sich nicht ermitteln, weil die meisten durch das offizielle Meldesystem nicht erfasst sind. Die soziale Situation der BewohnerInnen von Stolipinovo ist katastrophal: Sie leiden unter absoluter Armut, Mangelernährung und einer schlechten Gesundheitssituation. Die Verbreitung von Aids und TBC schreitet voran. Ca. 95 Prozent sind arbeitslos. Der Zugang zu schulischer und beruflicher Bildung ist segregiert: Die Schulen im Viertel werden nur von Roma besucht. Die Kindergärten haben getrennte Gruppen. Den Kindern aus der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung wird nicht zugemutet, mit Romakindern in einer Gruppe zu sein. Ghettoisierung und massive Diskriminierung werden aufgrund des wachsenden antiziganistischen Rassismus in der bulgarischen Gesellschaft immer schlimmer. Die Bezirksstadt Plovdiv — mit knapp 377.000 Einwohnern die zweitgrößte Stadt Bulgariens — wird in zwei Jahren europäische Kulturhauptstadt sein. Eindrucksvolle antike Ruinen, eine schöne Altstadt, die ein wenig an Salzburg erinnert, viele orthodoxe Kirchen, eine architektonisch bemerkenswerte Moschee: Alles, was wir bei einem kurzen Spaziergang geschen haben, entspricht dem Bild eines kulturellen Zentrums im Südosten Europas. Von einem der drei Hügel, auf denen das antike „TIrimontium“ erbaut war, sieht man auf die Reste des antiken Marmortheaters hinunter, das unter Kaiser Irajan zu Beginn des 2. Jahrhunderts nach Christus gebaut worden ist. Nun wird es mit Konzerten und Theateraufführungen bespielt, wie ich in diversen Stadtführern gelesen habe. Nun, da wir von einem der Hügel auf das Theater hinunterblicken, ist es leer und mit Schnee bedeckt. Im Zentrum der Stadt begegnet man bereits den Werbebannern für die Kulturhauptstadt: „plodov together 2019“. Auf der Website der 8 _ ZWISCHENWELT „Foundation Plovdiv 2019“ wird das Motto erläutert: „Plovdiv Together is a vision for successful and productive integration of past and present as well as development of awareness and engagement in the society.“ Die Bewerbung für die Kulturhauptstadt beinhaltete vor allem ein ehrgeiziges Kulturprogramm. Geplant ist eine Kunstinsel inmitten des Maritsa-Flusses. Auch die alten Tabaklager der Stadt sollen in einen Kulturraum verwandelt werden und der Stadtteil Kapana in ein Viertel der Kunst, in dem sich schöpferische Industrien entwickeln und präsentieren. Für 2019 plant die Stadtpolitik eine Vielzahl von Konzerten. Plovdiv wird Gastgeber einer Biennale sein und eine Reihe von internationalen Foren wie eine Sommerkunstschule sowie Tanzprojekte ausrichten. Darüber hinaus enthielt das Bewerbungskonzept auch Entwicklungsprogramme für die Minderheit der Roma. Ganz gemäß den „Grundwerten“, die die „Foundation“ für sich beansprucht: Man möchte wechselseitige Toleranz erreichen, indem man zwischenmenschliche und interkulturelle Schranken nicht nur überwindet, nein: gar „auslöscht“. Ein starkes Statement für ein wesentliches Ziel, zusammen mit dem öffentlich formulierten Bekenntnis zur Notwendigkeit von Bildung, um Stereotype gegenüber Anderen zu überwinden. Nach einer kurzen Fahrt Richtung Norden kommen wir an die Grenze von Stolipinovo. Eine Hauptstraße trennt es vom benachbarten bulgarischen Wohnviertel. Sobald wir ins Viertel einbiegen, werden die Straßen schlagartig schlechter. Der gefrorene Matsch hat die Straße zu einer Berg- und Talbahn werden lassen. Sie ist voll tiefer Löcher. Unter dem Eis Erde und Schotter, kaum noch Asphalt. Aus der dichten Menge an Hütten und Häusern in katastrophalem Zustand ragen ruinenartige Plattenbauten hervor. Dazwischen Müllhalden am Rande der Straßen, in denen Menschen und Tiere nach Verwertbarem suchen. Das Wetter ist kalt. Minus 6 Grad. Normalerweise wimmelt es in den engen Straßen zwischen den Hütten von Menschen. 55.000 BewohnerInnen auf einer Fläche von ca. 3 mal 2 Quadratkilometern. Doch jetzt sind die Straßen fast leer. Es ist zu kalt. Die wenigen, die unterwegs sind, sind leicht gekleidet. Es qualmt aus provisorischen Röhren und riecht nach verbranntem nassem Holz. Alles, was brennt, wird zum Heizen genutzt. Der Kleinbus hält vor einem Gittertor. Dahinter ein Hof mit einem Containerbau: ROMA Foundation. Wir werden — wie immer - herzlich in Empfang genommen und kommen ins Gespräch. Die Vertreter der Roma-Stiftung in Stolipinovo merken von einer Realisierung jener „Core Values“, von denen ich auf der Website der „Foundation Plovdiv 2019“ gelesen hatte, wenig. Als wir in Stolipinovo angekommen sind, fragen wir nach jenen Projekten, die die Situation der Roma-Bevölkerung verbessern und bis 2019 entwickelt werden sollen. Die RomaVertreter selber waren weder in Planung und Konzeption eingebunden, noch wissen sie etwas von ersten Umsetzungsschritten. Ein kleines Projekt mit Jugendlichen wurde mit einem winzigen Budget aus dem Topf der Kulturhauptstadt genehmigt. Mehr nicht.