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Zwei Ich bin versucht, das schockierend Fremde dieser Stadtlandschaft und der Lebenssituationen in ihr mit vertrauten Begriffen zu fassen. Die aufkommenden Gefühle lassen sich eindämmen, indem ich die Menschen, die hier leben, benenne: als BewohnerInnen eines Roma-Ghettos, das zugleich Slum ist. Schlagzeilenstereotype wie „Dritte Welt mitten in der EU“ drängen sich auf. Doch beim zweiten Mal Hiersein und nach vielen Gesprächen ist nicht alles so, wie es scheint. Selbst der Begriff „Roma“ als Sammelbezeichnung für die Menschen, die hier leben, wird unsicher. Als politisch korrekte Übersetzung des Vorurteilsstereotyps „tsiganin“ („Zigeuner“), mit dem viele aus der bulgarischen Mehrheit die Menschen hier belegen, bleibt er diesem Stereotyp verhaftet. Ich nehme wahr, dass viele Menschen in Stolipinovo es ablehnen, als „Roma“ bezeichnetzu werden. Allein deshalb, weil es Ausgrenzung, Diskriminierung, Beschimpfungen zur Folge hat. Die Mehrheit würde sich in einer ofliziellen Befragung wohl kaum als Rom oder Romnij bezeichnen. Auch ihre religiöse Zugehörigkeit ist nicht eindeutig. Die Mitglieder vieler Familien gehören unterschiedlichen Religionsgemeinschaften an. Nur eine Minderheit der EinwohnerInnen von Stolipinovo sicht sich selber als christlich, und der größte Teil davon wiederum sind Protestanten, die zu einer der freikirchlichen Gemeinden im Stadtteil gehören. Die Mehrheit bilden türkischsprachige Muslime, wovon wiederum die meisten sich als „Türken“ bezeichnen. Andererseits werden diese Menschen von der Mchrheitsgesellschaft, auch von den sog. „autochthonen“ Türken, als „tsiganin“ bezeichnet und niemals als Türken... Kein Slum gleicht dem anderen. Das Wort mit nur einer Silbe verdeckt die enorme Spannbreite an von Armut geprägten Stadtlandschaften. Sie erscheinen mir bei weitem unterschiedlicher als die uniformierte Konsumfassade von Shopping Malls oder Stadtzentren, die Reichtum verkörpern wollen. Jeder Slum organisiert sich anders und entwickelt eine eigene Subökonomie. So auch Stolipinovo. Darüber hinaus sind die Unterschiede innerhalb des Viertels enorm. Wir gehen an neu gebauten Häusern vorbei, die auch als Pensionen in einem Fremdenverkehrsort an der kroatischen Adriaküste dienen könnten. Unmittelbar daneben eine windschiefe Hütte, aus Brettern und Wellblech zusammengezimmert. Überragt werden beide von einem Wohnblock: Sozialwohnbau der sechziger Jahre, heute kaum mehr als eine Ruine, leere Fensterhöhlen, die notdürftig mit Pappe gegen die Kälte abgedichtet sind. Mittagessen an einer Kebabbude mitten im Viertel. Nichts ist so wie in dem Cafe in der Altstadt, das wir am Tag zuvor besucht hatten. Das Essen ist spottbillig. Menschen kommen vorbei, grüßen, bleiben stehen, beginnen mit uns zu reden. Wir versuchen es auf Englisch, sie sprechen Türkisch. Schließlich ist es der Körper, mit dem wir uns verständigen: die Hände, der ganze Oberkörper, das Gesicht. Wir lachen gemeinsam über das Nichtverstehen. Mir fehlt die Musik, die sonst in diesen Straßen allgegenwärtig ist. Bei unserm letzten Besuch standen an jeder Straßenecke junge Leute mit Instrumenten, vorzugsweise E-Gitarren, die etwas spielten, das wie Balkan-Rock klang. Laut, mit großen Verstärkern, die vor ihnen auf der Straße standen. Jetzt ist es zu kalt für Musik. Alle sagen, Stolipinovo sei ein Ghetto. Es gibt zwar keine sichtbaren Mauern um das Viertel, jedoch unsichtbare Barrieren, die beinahe unüberwindlich sind. Die Sprache ist eine solche Barriere. Sie verstellt den Zugang zu Bildungschancen und zu Arbeitsplätzen. Die Kenntnisse der Amtssprache sind bei den meisten Jugendlichen im Viertel niedrig. Manche sprechen überhaupt kein Bulgarisch. Geringe Sprachkenntnisse führen zu Defiziten bei der schulischen Bildung. Und: Wenn die Jugendlichen schlecht qualifiziert sind, sind sie nicht in der Lage, irgendeine Arbeit zu bekommen. Einige finden zeitlich beschränkte Gelegenheitsjobs oder arbeiten schwarz in der Schattenwirtschaft. Diskriminierung und rassistische Ausgrenzung durch die bulgarische Mehrheit, das regt hier kaum jemanden auf. Es sind Alltagserfahrungen der BewohnerInnen von Stolipinovo. Neben dem wirtschaftlichen Elend und einer „falschen“ sprachlichen wie nationalen Identität als „Türken“ sind sie die größte unsichtbare Mauer, die Stolipinovo zum Ghetto machen: eigene „Romagruppen“ in den Kindergärten, segregierte Schulen für die Jugendlichen im Viertel — sofern sie überhaupt in die Schule gehen. Die bulgarischen LehrerInnen in diesen Schulen wenden sich deshalb an die Roma-Stiftung. Sie wollen einige Brocken Türkisch lernen, damit sie sich zumindest ein wenig mit ihren SchülerInnen verständigen können. „Wie schaut dann der Unterricht aus?“, frage ich. Asen lächelt und zuckt mit den Schultern. Anton Karagyosov, ein seriöser älterer Herr, ist Präsident der Roma-Stiftung. Er saß einige Jahre im Gemeinderat der Stadt Plovdiv. Nun möchte sein Sohn Asen bei den nächsten Gemeinderatswahlen kandidieren. Anton meint: „Ja, die Jungen müssen ihre eigenen Erfahrungen machen. Für mich waren es vertane Jahre. Ich habe im Gemeinderat nichts erreicht. Du rennst gegen Mauern.“ Vor kurzem, so erzählt er mir, war er in einem Lokal in der Stadt essen. Er wurde nicht bedient. Als wir am letzten Abend vor unserer Abreise mit ihm und seinen MitarbeiterInnen zum Abschied essen gehen — ein armenisches Lokal in der Stadt, vornehm, gute Kiiche — spiiren wir selbst etwas von diesen Mauern. Es dauert lange, bis jemand an unseren Tisch kommt. Die Kommunikation ist betont knapp und unfreundlich. Nach dem Essen kommt rasch die Rechnung. Niemand fragt nach Kaffee oder einem Dessert wie sonst üblich. Wir wollen auch nichts mehr, sind froh, das Lokal zu verlassen. Drei Unsere Partner erzählen uns von Abrissaktionen der Stadtverwaltung. Das Problem ist nicht neu. Es ist auch nicht auf Stolipinovo beschränkt. Eine der Folgen von Armut und gesellschaftlicher Ausgrenzung sind die unzumutbaren, krankmachenden Wohnverhältnisse. 40 Prozent der Roma in Bulgarien besitzen keinen Frischwasseranschluss, 60 Prozent keine Kanalisation. 80 Prozent haben kein Bad. Die Lebenserwartung liegt deutlich unter dem Landesdurchschnitt. Der Zugang zu guter medizinischer Versorgung ist fast unmöglich. Laut der Wohnraumstatistik besitzen Angehörige der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung im Durchschnitt ohnehin nur 23qm Wohnraum, Roma 10qm. Aus dieser Wohnsituation von Roma-Familien folgt ein weiteres Problem: der Abriss ihrer meist ohne Baugenehmigung errichteten Häuser, Baracken oder Hütten. Da es sich in der Regel um ihre einzige Wohnmöglichkeit handelt, droht den Familien nach dem Abriss die Obdachlosigkeit. In Plovdiv wurden auch bisher schon alle zwei bis drei Jahre von der Stadtverwaltung die Roma-Viertel „gecleant“. Das bedeutet: Illegal gebaute Shops, desolate, einsturzgefährdete Hütten aus Wellblech- oder Holzteilen werden abgerissen. Die Stadt hat sogar einen eigenen Budgetposten für das „Cleaning“, aus dem die Baufirmen für den Abriss, den Maschineneinsatz Oktober 2017 9