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vor Dir keine Abrissaktion durchgeführt? Warum haben sie uns dort bauen lassen und das Bauen ohne Baugenehmigung nicht von Anfang an verhindert?“ Ich frage Schekir, was als offizielle Begründung dafür angegeben wurde, dass ihre Häuser weg müssten. Die Kommune sagt, so erklärt er mir, dass der Grund, auf dem die Häuser erbaut sind, im Flussbett der Maritsa liege. „Aber das Flussbett ist in Wirklichkeit ziemlich weit weg. Es sind 50 Meter bis zur Maritsa, und das Flussbett verläuft woanders. Ihr könnt es euch ja anschen.“ Ich frage nach: „Besteht denn wirklich Überschwemmungsgefahr?“ Schekir antwortet: „Einerseits gibt es wirklich einige Hauser, in denen es gefährlich ist zu wohnen. Diese Häuser sind aus Holzbalken und Ziegeln gebaut. Ohne Stützen und Fundament. Das ist tatsächlich gefährlich. Ein starker Regen könnte sie zum Einsturz bringen. Andererseits sind die Häuser weit weg vom Fluss. Wenn die Maritsa Hochwasser hat, kommt sie nicht heran. Das Wasser kann uns gar nicht erreichen. Es gibt einen Damm von 4 Metern Höhe. Der ist ja dafür da, dass das Wasser nicht hochkommt. Hochwassergefahr besteht keine. Wenn wir überschwemmt würden, dann stünde ganz Stolipinovo unter Wasser. Die Überschwemmungsgefahr ist kein wirklicher Grund.“ Die Kollegen von der Roma-Stiftung haben uns erzählt, dass es eine Unterschriftenaktion von Nachbarn gegeben habe, also frage ich Schekir: „Hat sich eurer Meinung nach jemand aus den Wohnblocks schräg gegenüber [Anm.: es handelt sich dabei um die „bessere“ Wohnsiedlung ca. 200 Meter von dem Viertel entfernt, in der Angehörige der bulgarischen Mehrheitsbevölkerung leben] bei der Kommune beschwert?“ — „Ja. Ich habe diese Beschwerde persönlich geschen. Ich weiß, dass es eine Beschwerde mit 200 Unterschriften beim Amt gibt. Die Leute aus den Wohnblocks schen uns jeden Tag, uns, die Menschen von der Minderheit. Aus deren Sicht sind wir kein schöner Anblick. Deswegen haben sie sich beschwert, dass unsere Häuser schrecklich anzusehen seien. Sie wollen uns nicht schen, weil wir dunkelhäutige Menschen sind. Deswegen. Wir sollen weg, damit diese Leute ein freies Blickfeld haben. Es soll nicht solche Häuser, es soll nicht so viele Roma in ihrer Nachbarschaft geben. Ich habe diese Beschwerde persönlich geschen. Jetzt, nach 22 Jahren! Warum haben sich die Leute nicht früher beschwert? Die auf dem Amt sagen: ‚Das ist die Lage, man kann nichts machen, es gibt Beschwerden.‘“ Wo die Menschen den absolut beengten, desolaten Wohnverhältnissen im Zentrum des Viertels mit der Bautätigkeit nahe dem Flussufer entkommen wollten, droht ihnen nun, mit dem Abriss, die absolute Obdachlosigkeit. Sie werden mitten im Winter mit ihren Kleinkindern in ausgebrannte Ruinen oder nicht fertiggestellte Rohbauten ziehen müssen, in denen es nichts gibt: keine Fenster und Türen, nackte Betonböden, keine Wasser-, Kanal- und Stromanschlüsse und keine Heizmöglichkeiten. Die Stadtverwaltung hat den Betroffenen nur einige wenige Übergangsnotwohnungen in Aussicht gestellt, die bei weitem nicht für alle reichen werden. „Warum müssen ausgerechnet unsere Häuser weg?“, fragen sich die Menschen in der Banderitsa-Straße. „Wo werden wir hingehen, wenn unsere Häuser weg sind? Wir wissen nicht wohin!“ Ein naheliegender Lösungsschritt wären Mediationsgespräche zwischen der Stadtverwaltung und der betroffenen Bevölkerung. Die Roma-Stiftung könnte dabei als Vertreterin der BewohnerInnen auftreten können. Doch dazu ist es in Plovdiv bisher nicht gekommen. In Parvomay, einer Kommune im Bezirk Plovdiv, ist ein solches Projekt gerade angelaufen. Über Vermittlung der Roma-Stiftung saßen die beiden Parteien zum ersten Mal an einem Tisch. Das Ergebnis der Mediationsgespräche wird im Mai dieses Jahres umgesetzt werden: Die Stadt bietet den betroffenen Roma-Familien zwanzig Baugrundstücke mit je 500 Quadratmetern zum Kauf an. Fin Grundstück wird 1000 Leva (ca. 500 Euro) kosten. Dieses Ergebnis der Mediation ist eine realistische Möglichkeit für die Familien, legales Wohnungseigentum zu erwerben. Die Stiftung versucht, die Menschen dazu zu motivieren, dass sie diese Gelegenheit ergreifen, obwohl 1000 Leva für viele von ihnen kaum leistbar sind. Manche können sie aufbringen, manche nicht. Kredite von Banken sind kaum zu bekommen, da über 90 Prozent kein regelmäßiges Einkommen nachweisen können. Man versucht nun, mit der Kommune Ratenzahlungen auszuhandeln. In Stolipinovo ist eine solche Lösung bisher nicht in Sicht. Im Gegenteil: Weitere Abrissaktionen in anderen Teilen des Stadtviertels wurden bereits angekündigt. Deshalb stellt sich eine Frage, die von unseren Freunden in der Roma-Stiftung heftig diskutiert wird: Egal, ob es sich um Garagen und Werkzeugschuppen handelt oder um die einzige Wohnung einer vielköpfigen Familie: Für den Abriss illegaler Bauten gelten dieselben gesetzlichen Bestimmungen, und es wird von der Stadtverwaltung dieselbe Vorgangsweise angewandt. Aus der Sicht der Betroffenen jedoch hat der Abriss von Wohnhäusern eine völlig andere Dimension als das „Cleaning“ von illegal errichteten oder baufälligen Shops und Garagen. Bei den Wohnhäusern handelt es sich um die einzige Wohnmöglichkeit von Menschen. Es gibt keine Alternative für sie. Schekir formuliert die Fragen, die sich in Stolipinovo viele stellen: „Sind wir etwa keine Bulgaren? Wir sind Angehörige der Minderheit, und ich fühle mich einfach erniedrigt. Wie kann das sein? Ich bin Bulgare. Ich lebe in Bulgarien und liebe dieses Land. Es ist mein Heimatland.“ Fünf In den Wochen nach unserem Aufenthalt in Plovdiv versuchen wir die Medien und die politische Öffentlichkeit in Österreich auf die Situation der Menschen in der Banderitsa-Straße aufmerksam zu machen. Es erscheinen Artikel in Zeitungen und Zeitschriften. Der Menschenrechtsbeirat der Stadt Graz schreibt an den Bürgermeister von Plovdiv. Asen teilt uns mit, dass der Abriss der Häuser wegen ihrer vermeintlichen Lage im Hochwassergebiet bis auf weiteres aufgeschoben ist. Es droht aber — nun für die Häuser an der gesamten Straße, einschließlich der Kirche, die wir schon zweimal besucht haben — trotzdem der Abriss: Die Banderitsa-Straße soll ausgebaut und verlängert werden. Für dieses Bauvorhaben müssten noch wesentlich mehr Häuser abgerissen werden. Diese Information kommt vorerst nur inoffiziell aus der Verwaltung, und es kann ein bis zwei Jahre dauern, bis das Ganze akut wird. „Aber wer weiß hier schon“, meint Asen, „was tatsächlich als nächstes passiert“. Quellen htep://plovdiv2019.eu/en/about-us (zuletzt aufgerufen: März 2017) hteps://de.indymedia.org/node/6678 (zuletzt aufgerufen: März 2017) Tonya Georgieva: Die soziale Integration der Roma in Bulgarien im Kontext der Roma-Politik der Europäischen Union. Masterarbeit, Universität Wien. Fakultät für Sozialwissenschaften 2013. http://othes.univie. ac.at/30433/ (zuletzt aufgerufen: März 2017). Oktober 2017 11