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Kuh es formuliert hat, er lieber in Berlin unter Wienern lebte als in Wien unter Kremsern. Doch ist sein Heimweh nach Wien zu stark — nach nur wenigen Monaten kehrt er zurück in sein Wien. Freunde in Wien Diese Liebe hat natürlich auch viel mit seinem Kreis vieler enger Freunde zu tun, den er in Wien bis 1938 gehabt har. Was Freundschaft betrifft, habe ich in meinem Leben besonderes Glück gehabt. Ich kann ohne Übertreibung sagen, dass es der Segen meines Lebens war. Mit vielen bedeutenden Menschen lebte ich in ungetrübter Freundschaft, bedeutenden, die später berühmt werden sollten, wie Joseph Roth, Alban Berg, Robert Musil, Otto Klemperer, Joseph Frank, Ernst Bloch, um nur einige zu nennen; mit vielen anderen, die nicht so viel Ruhm erreicht haben, und vielen sogenannten gewöhnlichen Sterblichen, die bedeutende Menschen waren, ohne Anspruch auf Ruhm je erhoben zu haben, aber meinem Herzen ebenso nahe- und manchmal noch näherstanden. Man könnte noch viele Freunde in Wien erwähnen, von denen recht viele auch heute bekannt sind, z.B. die Musiker Anton Webern, Hanns Eisler und Ernst Krenek (bzw. die Bekanntschaft mit Arnold Schönberg), und den Pianisten Stefan Askenase, Teddy Wiesengrund, der sich später Theodor Adorno nannte, die Schriftsteller Stefan Zweig und Franz Werfel, Anton Kuh, später Friedrich Torberg und auch Abraham Sonne, Conrad Lester und Karl Tschuppik sowie Alma Mahler-Werfel mit ihrem Freundeskreis. Café Museum — Wiener Wohnungen Getroffen haben sich die Freunde meist im Café. Morgenstern verkehrte in mehreren Cafes, u.a. im Herrenhof und im Schönbrunner Stöckl. Vor allem aber war sein Zuhause das Café Museum — dort war er regelmäßig anzutreffen, traf dort nicht nur seine Freunde, sondern stellte diese auch einander vor, er hat dortz.B. Robert Musil mit Joseph Roth bekannt gemacht. (Es dürfte das einzige Mal gewesen sein, dass diese zwei so unterschiedlichen Österreicher einander begegnet sind.) In das Café kam Morgenstern von seiner Wohnung aus verschiedenen Richtungen, denn, fast so oft wie Beethoven, hat Morgenstern seine Wohnungen in Wien häufig gewechselt. In seinen rund 25 Wiener Jahren hat er etwa 25 Adressen gehabt, im 1.,2.,4., 8.,9., 13. und im 14. Bezirk. Davon lagen während elf Jahren (1921-1932) neun dicht nebeneinander in Alt-Hietzing, einer seiner Lieblingsgegenden in Wien, der er mehrere Artikel gewidmet hat, zuletzt sogar noch im Pariser Exil 1940 die etwas nostalgische Skizze „Alt-Hietzing“.! Der 59er Um von Hietzing in die Innere Stadt zu gelangen konnte man damals (bis 1972) die Wiener Straßenbahnlinie 59 verwenden, die direkt in die Operngasse, also zum häufig besuchten Musikverein und auch zum Cafe Museum führte. Trotzdem wollte Morgenstern schon länger in das Stadtzentrum übersiedeln, doch hat sich das immer wieder verzögert. Morgenstern berichtet (ca. 1970): 18 _ ZWISCHENWELT Angebahnt worden ist sie [die Verzögerung der Rückkehr von Soma Morgensterns Wohnung in Wiens Außenbezirken in die Innere Stadt] aber von einer Linie des Wiener Straßenbahnsystems, die man mit der Nummer 59 bezeichnet hat, oder wie der Volksmund diesen Straßenbahnwagen benannt hat: der Nanafufziger. Er kommt von Speising über Alt-Hietzing und im weiteren Lauf, schon im Begriffe, an dem Prunkstück der Habsburger, an dem Schloß von Schönbrunn vorbeizurollen, macht er fast in geradem Winkel ein Knie, um gleich an der ersten Straße haltzumachen und so die kürzeste direkte Verbindung zwischen Penzing und Innerer Stadt herzustellen. Diesem Nanafuchziger habe ich viele Bekanntschaften zu verdanken. Angenehme und zuwidere, flüchtige und andauernde, sehr wichtige und völlig wertlose. Wie es so das fast tägliche Hin- und Herreisen zwischen Vorort und Stadt im Gang der Jahre mit sich bringen muß, in einem Milieu obendrein, wo Menschen nicht gar zugeknöpft stehen, warten, sitzen und nur zu oft recht eng zusammengedrängt miteinander reisen. [...] Nach einigen vierzig Jahren würde ich kaum noch das Sentiment aufbringen, jetzt von der Nummer einer Trambahn wie von was Nennenswertem, ja wie von was Wertem zu reden, ja es aufzuschreiben, hätten die ungezählten Fahrten mit dieser Bahn, |...] der Nanafuchziger nicht die Bekannischaft und Freundschaft mit Alban und Helene Berg vermittelt. Schon durch die häufige Benutzung des Neunundfünfzigers hat Morgenstern oft die Mariahilferstraße in ihrer ganzen Länge gut kennengelernt, der er auch einmal ein eigenes liebevolles Feuilleton gewidmet hat.!! Doch mochte er auch die Gegend in Hietzing noch so sehr, seine Wohnungen dort empfand er nicht als ideal, hatte mitunter auch vertragliche Probleme. Wirklich zuhause in einer Wohnung fühlte er sich erst in seiner letzten Wohnung in Wien, wo er mit seiner Frau und seinem Sohn Dan seine letzten fünf Jahre in Wien lebte. Belvederegasse In einem Brief vom September 1932 berichtet Morgenstern Alban Berg: Ich hatte mit der Wohnung schreckliche Scherereien — nun ist der Vertrag geschlossen. Und neue mit der Einrichtung beginnen im Oktober. Wir werden IV. Belvederegasse 10, aber erst ab 1. November wohnen. Bis dahin müssen wir einrichten, mit wenig Geld und also viel Schulden. In der Belvederegasse 10 befand sich, wie er schreibt, der einzige Schreibtisch, zu dem er gerne zurückkehrte. Dort verkehrten viele seiner Freunde, die auch der junge Sohn kennengelernt hat - u.a. Joseph Roth und Alban Berg. Die geräumige 6-Zimmer-Wohnung neben dem Oberen Belvedere (mit Blick auf den Kahlenberg — allerdings nur vom Badezimmer aus) war wirklich das Zuhause der Familie und wäre cs vielleicht noch länger geblieben als nur bis zum März 1938 - vielleicht aber auch nicht, denn Morgensterns Mietvertrag lief, als ob man das Ende so genau geahnt hatte — im Mai 1938 ab. Nachdem Morgenstern als „Nichtarier“ 1933 seine Stellung bei der Frankfurter Zeitung verloren hatte, wurde die finanzielle Situation knapper und man sah sich veranlasst, zwei der sechs Zimmer unterzuvermieten. Bis zum Ende haben die Morgensterns dort mit dem Cellisten des Kolisch-Quartettes gewohnt.'” Der musste 1938, wie Morgenstern und zwei weitere Bewohner des Hauses, vor den Nationalsozialisten fliichten (zwei weitere Hausbewohner wurden im Holocaust ermordet). Seit November 2015 erinnert ein Stolperstein vor dem Eingang Belvederegasse 10 daran. Und