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ersetzt werden. So balancierten auch die Inhaftierten ständig auf „diesem Grat zwischen Opfertum und Täterschaft“.”7 Die SS verbot anfangs ein musikalisches Leben, duldete es aber in der Folge, um es schließlich sogar zur Befriedung nach innen und Propagandazwecken nach außen zu fördern. Die Organisation des gesamten Lagers übergab sie der „Jüdischen Selbstverwaltung“. Diese etablierte eine sogenannte „Freizeitgestaltung“, die für die Organisation und Koordination eines breitgefächerten Kulturprogramms zuständig war. Die SS gewährte ihr einen großen Spielraum, da sie die Beteiligten in ihrem Vernichtungsprogramm bereits zur Ermordung in anderen Lagern bestimmt hatte. Die Bilanz der gesamten Kulturveranstaltungen im Dezember 1942 liest sich bewundernswert: 92 Kameradschaftsabende, Kabaretts, Channukah-Feiern mit 36.500 Gästen, 50 Vorträge mit 6.000, 350 Blockveranstaltungen mit 16.700 Anwesenden. Zwölf Vorleser lasen ca. 1.000 Stunden in 660 Zimmern und 6.500 besuchten das Kaffechaus.”® Das künstlerische Angebot lag „qualitativ und quantitativ weit über dem Niveau einer kleineren oder mittleren Stadt.“ Musik spielte innerhalb der „Jüdischen Freizeitgestaltung“ mit einer eigenen Sektion eine besondere Rolle. Von den Nationalsozialisten zu Propagandazwecken missbraucht, diente sie ihr als inszeniertes Hörbild, um vom Massenmord an der jüdischen Bevölkerung abzulenken. Mit Hilfe der Gefangenen in Tonspuren gesetzt, fungierte sie jedoch gleichzeitig für diese als Antidepressivum, gemeinschaftsbildendes Widerstandssymbol und emotionaler Hoffnungsraum. So ertönte sie im widersprüchlichen Wechselspiel von Missbrauch durch die Täter und kulturellem Selbstrettungsmanöver der zumeist dem Iod geweihten Opfer. In der künstlerischen Parallelwelt wurden Kammermusiken oder Opern aufgeführt. Die Kinderoper Bundibdr von Hans Kräsa wurde ein derartiger Erfolg, dass Lieder aus ihr gleichsam als Hymnen des Widerstandes und der Zuversicht gesungen wurden. Verdis christliches Reguiem und Smetanas tschechische Nationaloper Die verkaufte Braut erhielten Kultstatus und mussten oftmals wiederholt werden. Ebenso spielte man verfemte Musik oder den als „entartet“ diffamierten Jazz. Zahlreiche Neukompositionen dokumentieren unter den hier herrschenden unmenschlichen Bedingungen den unbeugsamen Überlebenswillen und die kulturelle Kompetenz ihrer Schöpfer. Die dargebotenen Klangwelten unterlagen kaum einer Zensur und repräsentierten ein Repertoire, das im Dritten Reich weitestgehend verboten war. So schenkten sie den Häftlingen im „Wartesaal des Todes“ kurze Augenblicke des Glücks. Mit Hilfe der Musik und der Kunst im Allgemeinen versuchten die vom NS-Regime als „Untermenschen“ diffamierten Häftlinge ihre menschliche Würde zu bewahren. Im Lager von Terezin, das auch Klein Prag genannt wurde, kam es vor der endgültigen Vernichtung zu einem letzten Aufleben jüdisch-tschechisch-deutscher Kultur. Für Ullmann bedeutete der Aufenthalt in Theresienstadt physische und psychische Überlebenskunst. Geschult in humanistischer Bildung, geprägt durch Anthroposophie und Freimaurerei, war er zudem ein leidenschaftlicher Anhänger Goethes. In seiner im Lager verfassten Skizze Goethe und Ghetto schrieb er: So schien mir Goethes Maxime: „Lebe im Augenblick, lebe in der Ewigkeit“ immer den ratselhafien Sinn der Kunst ganz zu enthüllen. Malerei entreifst, wie im Stillleben das ephemere, vergängliche Ding oder die rasch welkende Blume, so auch Landschaft, Menschenantlitz und Gestalt oder den bedeutenden geschichtlichen Augenblick der Vergänglichkeit, Musik vollzieht dasselbe für alles Seelische, für die 52 ZWISCHENWELT Gefühle und Leidenschaften, für die „libido“ im weitesten Sinne, für Eros und Thanatos. Von hier aus wird die „Form“, wie sie Goethe und Schiller verstehen, zur Überwinderin des „Stoffes“. Theresienstadt war und ist für mich Schule der Form. Früher, wo man die Wucht und Last des stofflichen Lebens nicht fühlte, weil der Komfort, diese Magie der Zivilisation, sie verdrängte, war es leicht, die schöne Form zu schaffen. Hier, wo man im täglichen Leben den Stoff durch die Form zu überwinden hat, wo alles Musische im vollen Gegensatz zur Umwelt steht: Hier ist die wahre Meisterschule, wenn man mit Schiller das Geheimnis des Kunstwerks darin sieht: den Stoff durch die Form zu vertilgen— was ja vermutlich die Mission des Menschen überhaupt ist, nicht nur des aesthetischen, sondern auch des ethischen Lebens. (...) Zu betonen ist nur, dass ich in meiner musikalischen Arbeit durch Theresienstadt gefördert und nicht etwa gehemmt worden bin, dass wir keineswegs bloß klagend an Babylons Flüssen saßen und dass unser Kulturwille unserem Lebenswillen adäquat war.” Mit diesen Aussagen wird klar, wie schr Ullmanns musikalische Tätigkeit von seiner philosophischen Einstellung durchdrungen und durch die menschenunwürdige Realität im Lager gefordert war. Im Gegensatz zu anderen zerbrach er nicht daran, sondern machte die „Schule der Form“ zu seiner Meisterschaft. Mithilfe der Musik durchdrang er den Stoff, „vertilgte“ die Außenwelt durch sein künstlerisches Wollen und überwand sie. Es war die gewollte Form, die er von innen neu gestaltete, um sie der Wirkung zu übergeben.*! So lebte er im Augenblick und komponierte seine Musik in die Ewigkeit. Es waren Fluchtlinien zu sich selbst, Strategien der Selbstbehauptung, Tonspuren, die über ihn hinauswirken. Von der physischen Endzeit gelangte er mit Hilfe der Musik zur metaphysischen Zeitlosigkeit der Kunst. Damit hinterließ er ein singuläres musikalisches Werk und gleichzeitig ein philosophisches Vermächtnis: Der Wille zur Kultur, in seinem Falle zur Musik, wird zum Überlebenswillen. In ihm manifestiert sich die Kraft des künstlerischen Schaffens als ethisches Bekenntnis der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Der Kaiser von Atlantis — eine Oper als freimaurerische Selbsterkenntnis Das Lachen, das sich selbst verhöhnt, ist unsterblich. Der Tod im Kaiser von Atlantis” Ullmann entfaltete in Terezin trotz der bedrückenden Atmosphäre, des allgegenwärtigen Todes und des täglichen Hungers eine überaus rege musikalische Tätigkeit. In diesem Zusammenhang scheinen die Worte von Ruth Klüger, die die Shoah überlebte, eine besondere Bedeutung zu erhalten: Und deshalb meine ich, es kann die äußerste Annäherung an die Freiheit nur in der ödesten Gefangenschaft und in der Todesnähe stattfinden, also dort, wo die Entscheidungsmöglichkeiten auf fast Null reduziert sind. In dem winzigen Spielraum, der dann noch bleibt, dort kurz vor Null, ist die Freiheit [...] kann die Freiheit als das Verblüffende eintreten.” Ullmann bewegte sich anscheinend in diesem kleinen Spielraum, der ihm zur großen schöpferischen Freiheit wurde und ihn zum Verbliiffenden — zu intensivstem musikalischen Schaffen - führte. Er gründete ein „Studio für neue Musik“ und eines für alte, das „Collegium musicum“. Daneben schrieb er zahlreiche Kritiken der im Ghetto-Lager aufgeführten Werke und unterrichtete. Von der schweren Lagerarbeit befreit, besaß er damit ein seltenes Privileg