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Grundprinzip der Überwindung der Todesangst. Aber es ist der
Spiegel, der die letzte Erkenntnis bringt. Mit ihm wird ein zentrales
Symbol der Freimaurerei in das Werk integriert. Erst der Blick in
den Spiegel ermöglicht, das eigene Spiegel-Bild zu schen, jenes
Bild, das zur Tiefenschau, zur Selbsterkenntnis führt, denn der
wirkliche Feind wartet nicht in der Außenwelt, sondern zeigt
sich im eigenen Ich. Diese Erkenntnis ist im philosophischen
Gebäude der Freimaurerei eine Voraussetzung für die Selbstver¬
vollkommnung. Gleichzeitig beinhaltet das im Spiegel erblickte
Bild des Todes in Ullmanns Oper das Gedenken an die eigene
Sterblichkeit. Mit ihm entwickelt sich der warnende Hinweis
darauf, dass die Betrachtenden selbst im Angesicht des ständig
drohenden Todes nach ihren Taten gemessen werden. Sie sind
ihnen Richter und Maß.

Liest man diese Bedeutung bei Ullmanns Kaiser von Atlantis mit,
so entsteht eine interessante Deutungsmöglichkeit. Mit dieser Oper
mag sich der Komponist in seinem Werk selbst geprüft und den
letzten, den zentralen Dingen zugewandt haben. Im Angesicht des
Todes gibt es keine Ausflucht mehr. Der Tod macht alle gleich. In
seinem Angesicht wartet die radikalste Innenschau, die zur Selbst¬
prüfung ruft. So mag der Kaiser nicht nur für einen Tyrannen in
der Außenwelt, sondern auch für den Tyrannen im eigenen Selbst
stehen. Ihn zu erkennen, bedeutet, ihn zu überwinden und damit
auch den Tod nur als Teil einer beständigen Metamorphose zu ver¬
stehen. So kann die Transformation der Angst in Ruhe und durch
Erkenntnis Frieden und Freiheit erfolgen. Ullmann ermöglicht
mit diesem Schluss nicht nur seine individuelle Prüfung, sondern
auch die des Tyrannen und die jeder menschlichen Existenz. Da¬
mit macht er der Gesellschaft ein versöhnliches und gleichzeitig
radikales Angebot, das seine Musik als ein Vermächtnis erscheinen
lässt. In seinem Tagebuch in Versen hatte er geschrieben:

Der Ton wird Wort, das Wort wird Ton,

das Lied wird Glück und Trost der Hohn.
Der Wahn wird Wahrheit, Sturz wird Steigen,
Gespenstertanz wird Engelreigen.*

Im Auflösen der Grenze zwischen dem Tyrannen und dem Ich,
im Erkennen des Doppelgängers als eigene Person, gleichen sich
Komponist und Hauptfigur, sie verschmelzen ineinander. Gleich¬
zeitig bezichen sie das Publikum durch den Spiegel im Angesicht
des Todes in den Transformationsprozess mit ein. Das Angebot
wird gültig. Wer den Tod erkennt, hat ihn überwunden. Wer den
Tod durchdacht hat, wird Meister. Wer den Tod durchkompo¬
niert, erkennt das Wesentliche. Damit beginnt ein anderes Leben.

In dieser Musik macht sich Viktor Ullmann zum Meister über
beides — über Leben und Tod.

Mit den Proben zur Oper wurde 1944 begonnen, zu einer Auf¬
führung kam es nicht.“ Ullmann hatte die Aufführgenehmigung
wegen interner Zensur, die den Inhalt seiner Meinung nach unzu¬
mutbar verändert hätte, zurückgezogen.“ Im Oktober 1944 wurde
er nach Auschwitz-Birkenau deportiert und dort ermordet. Der
durch das NS-Regime geplante Schlussakkord entwickelte sich
zum unplanbaren Auftakt seines unsterblichen Vermächtnisses,
zu einem musikalischen Plädoyer für den Erhalt der menschlichen
Würde. In ihm transformiert sich die Hingabe an die Kunst zu
einer Chronik der Erinnerung und einem gültigen Wegweiser
für Gegenwart und Zukunft: Musik als magischer Moment der
menschlichen Existenz und als Spiegelbild der Selbsterkenntnis,
die durch die „Form“ den „Stoff“ überwindet. In seiner auch

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zutiefst philosophisch zu interpretierenden Komposition lebt
Viktor Ullmann weiter.

Post scriptum

Seine Werke ließ Ullmann bei einem Mithäftling, Prof. Dr. Emil
Utitz, dem Leiter der Bibliothek von Theresienstadt, zurück. Er
bat ihn, sie dem Leidensgefährten Hans Günther Adler zu über¬
mitteln. Durch beider Überleben blieben sie zwar der Nachwelt
erhalten, gelangten jedoch lange nicht in die Öffentlichkeit. Erst
in den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde sie wiederent¬
deckt. Der Kaiser von Atlantis wird seither auf vielen Weltbühnen
aufgeführt und machte seinen Komponisten posthum berühmt.
Damit erhält Ullmanns Meisterstück und Vermächtnis seinen
würdigen Platz in der Musikgeschichte.

Lisa Fischer, Historikerin, Autorin. 2016 kuratierte sie die Ausstel¬
lung: „MARSCH DER FRAUEN — Ungehörige Komponistinnen
zwischen Aufbruch, Bruch & Exil“. Zuletzt erschienen: Marsch der
Frauen — Ungehörige Komponistinnen zwischen Aufbruch, Bruch
& Exil, Wien 2016 und Komm mit nach Terezin — Musik in The¬
resienstadt 1941 — 45, Wien 2015. In ZW erschienen: Vitizslava
Kapralovd — Die frühvollendete Meisterin (1-2/2016)

Anmerkungen

1 Viktor Ullmann: Goethe und Ghetto 1944, zit. in: Viktor Ullmann: 26 Kritiken
über musikalische Veranstaltungen in Theresienstadt, Hamburg: Bockel 1993, 93.
2 Ingo Schultz: Viktor Ullmann, Leben und Werk. Kassel: Bärenreiter 2008, 26.
3 Verena Naegele: Viktor Ullmann — Komponieren in verlorener Zeit. Köln:
Dittrich 2002, 56.

4 Naegele,102.

5 Fbd., 94.

6 Ebd., 69.

7 Textbuch zur Oper Der Kaiser von Atlantis oder die Tod-Verweigerung, in:
Ingo Schultz: Beitrage. Programme. Dokumente. Materialien. Sommerakademie
Johann Sebastian Bach, Stuttgart: 0. V 1998, 124.

8 Naegele, 102.

9 Schultz: Viktor Ullmann, 122.

10 Ebd.

11 Naegele, 258 und 306.

12 Schultz: Viktor Ullmann, 147.

13 Ebd., 148.

14 Siehe hier und im Folgenden: Liste der Mitglieder der Großloge Lessing zu
den drei Ringen, 1937, Archiv der Großloge von Österreich.

15 Vgl. dazu auch den Beitrag über Die Künstler der Lessinglogen, Die Drei
Ringe, Heft 5, Mai 1935, 97-98.

16 Ebd. 80.

17 Vgl. dazu auch den Beitrag über Die Künstler der Lessinglogen, Die Drei
Ringe, Heft 3, März 1935, 50.

18 Die drei Ringe, Monatsblätter für Freimaurerei und verwandte Gebiete, Heft
12, 11. Jg. 19 Dezember 1935, Prag 1935, 196.

19 Ebd. Heft 6, 11. Jg. Juni, Prag 1935, 100.

20 Ebd. Heft 4, 13. Jg. April, Prag 1937, 56.

21 Ebd. Heft 6-7, 13. Jg. Juni-Juli, Prag 1937, 107.

22 Ebd. 1935 Heft 9, 11. Jg., 145-147 und Heft 12, 10. Jg, 213-216, 1936 Heft
1, 12. Jg., 8-10, und Heft 11, 12. Jg., 165-166. Siehe dazu auch die in diesem
Band abgedruckten Artikel.

23 Schultz: Viktor Ullmann, 167.

24 Mit freundlicher Mitteilung von Ingo Schultz am 9.6.2015.