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REZENSIONEN Wenn ich mich mit diesen „Themen“ - ein schrecklicher akademischer Ausdruck — beschäftige, so wahrhaftig nicht, weil ich mich als Germanistin dafür interessierte, auch das Wort ‚Interesse‘ ist hier ein gar nicht zu unterbietendes Understatement: Vielmehr beschäftige ich mich deshalb mit diesen Dokumenten der schlimmsten Epoche Österreichs, und diese hören nicht auf, mich zu beschäftigen, weil diese Zeit nicht, wie es ofhiziell-euphemistisch heifst, eine „Vertreibung der Vernunft“ gewesen ist, sondern eine des systematischen Massenmordes, dem natürlich auch normale Menschen, Nichtwissenschaftler, zum Opfer gefallen sind. Ich gedenke zum Schluß meiner Familie, von der nur zwei Mitglieder eines natürlichen Todes in ihren Betten sterben haben dürfen. Wessen Vernunft war hier vertrieben? Die der Vertreibenden und Mörder. (Elisabeth Freundlich: Die Vernunft der Täter. In: Forum. Wien, Marz/April 1988, S. 11). Fünfundsiebzig Jahre nach dem Massenmord am jüdischen Friedhof in Stanislau am 12. Oktober 1941 — dem Beginn der „Endlösung“ im „Generalgouvernement“ —, dreißig Jahre nach der Erstauflage ihres Buches und 15 Jahre nach dem Tod der Autorin, hat sich die Theodor Kramer Gesellschaft dazu entschlossen, eine erweiterte Neuausgabe ihres Werks herauszugeben. Elisabeth Freundlich hatte seit den 1960-er Jahren Gerichtsprozesse zu den NS-Verbrechen besucht und dariiber geschrieben. Mit welcher inneren Beteiligung und dem damit verbundenen Schmerz sie sich dieser Aufgabe widmete, lässt das obige Zitat nur erahnen. Elisabeth Freundlich, geboren 1906 in Wien, wuchs in einer bürgerlichen, weltoffenen, jüdischen Familie auf. Sie studierte Germanistik und arbeitete beim Theater. Als ihre Familie 1938 aus Osterreich flichen muss, ist sie 31 Jahre alt. Uber Frankreich gelangen sie 1940 mit Hilfe von Emergency Visa, das sie durch den ihnen unbekannten Revolutionären Sozialisten Joseph Buttinger erlangt hatten, in die USA. (Vgl.: Elisabeth Freundlich: Die fahrenden Jahre. Salzburg 1992, S. 110). Dort absolviert Elisabeth Freundlich eine Bibliotheksausbildung und beginnt im Metropolitan Museum zu arbeiten. Ihr Hauptinteresse gilt aber ihrer ehrenamtlichen Redaktionstätigkeit für die literarische Beilage der „Austro-American Tribune“, wo sie unter dem Pseudonym Elisabeth Lanzer, dem Mädchennamen ihrer Mutter, publiziert. Nach ihrer Rückkehr nach Österreich im Jahr 1950 wird ihr bald klar, dass von den Nazis vertriebene RemigrantInnen im Land vielfach nicht erwiinscht sind. Freundlich ist inzwischen Mitte vierzig. Vergeblich versucht sie einen Verlag für ihren Roman ,,Seelenvogel“ zu finden, in dem sie die Geschichte ihrer Familie erzählt. Auch journalistisch kann sie in Österreich lange nicht Fuß fassen. Sie arbeitet als literarische Übersetzerin und schreibt für deutsche Zeitungen Theaterkritiken aus Wien. Ab den 1960-er Jahren veröffentlicht sie auch gelegentlich in der Zeitschrift der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde „Die Gemeinde“. Ab Ende der 1960-er Jahre, Freundlich ist inzwischen über sechzig, schreibt sie Literaturrezensionen für den ORE Nach der von ihr im Schuljahr 1974/75 gestalteten Schulfunksendung mit dem Titel „Galizien — aber wo liegt es?“ erhielten der Chefredakteur und sie zahlreiche Schmähbriefe und wurden der Lüge bezichtigt. Im gleichen Jahr wird der Text „Das Massaker in Stanislau“ im Tel Aviver Jahrbuch des Instituts für deutsche Geschichte erstveröffentlicht. Dieses Kapitel bildet den Kern der Publikation, die unter dem Titel „Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau“ im Jahr 1986 im Österreichischen Bundesverlag erschienen ist. In jenem Jahr — Elisabeth Freundlich war mittlerweile 80 Jahre alt - konnten endlich auch ihr Roman „Seelenvogel“ und der Erzählband „Finstere Zeiten“ erscheinen. Es waren damals vor allem jüngere linke AutorInnen aus Österreich wie Ingrid Strobl und Erich Hackl, die Elisabeth Freundlichs Bücher einem breiteren Publikum bekannt machten. Das Besondere an Elisabeth Freundlich schonungsloser Dokumentation der NS-Vernichtungspolitik liegt in ihrem Bemühen, hinter all den unfassbaren Grausamkeiten, die sie schildert, die einzelnen Menschen zu sehen, sowohl die Opfer als auch die TäterInnen. Freundlich wohnte auch den im Jahr 1966 in Wien und Salzburg stattgefundenen Prozessen gegen einige Angehörige der Sicherheitspolizei Stanislau bei, sah die Gerichtsakten ein, hörte den Überlebenden zu, die als ZeugInnen aussagten und las deren Berichte. Der Prozess gegen den Leiter der Außenstelle Stanislau SSHauptsturmführer Hans Krüger und mehrere Mittäter fand 1966-68 in Münster statt. Die Dienststelle hatte 30 deutsche Mitarbeiter und arbeitete mit „Volksdeutschen“ und Ukrainern vor Ort als sog. Hilfsfreiwillige zusammen. Die Auslöschung der jüdischen Bevölkerung der Stadt in der auch viele Flüchtlinge lebten, begann im August 1941 und dauerte bis Juli 1943. Danach wurde bekannt gegeben, dass die Stadt nun „judenfrei“ sei. Das Massaker am 12.10.1941 - der Tag ging als „Blutsonntag“ in die Geschichte ein — wurde mit Hilfe des Reserve-Polizeibatallions 133, dem viele Osterreicher angehörten, durchgeführt. Allein an diesem Tag wurden 12.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder auf dem Friedhof in Stanislau erschossen. Die Gebrochenheit des Textes, die das Lesen des Buches manchmal erschwert, kann als Sinnbild für die Unmöglichkeit geschen werden, die Schrecken, die sich über Jahre in allen erdenklichen Formen ereigneten, in einer logischen Ordnung darzustellen. Auch wenn ein Teil ihrer Dokumentation der historisch-politischen Komplexität des Landes nicht immer gerecht wird bzw. inzwischen wissenschaftlich überholt ist, wie der Historiker Jaroslaw Hryzak ausführt, hat Elisabeth Freundlich mit ihrer Publikation doch bereits früh Themen angesprochen, die bis heute Gegenstand wissenschaftlicher Forschungen sind. Dies gilt für die Frage der TäterInnenschaft ebenso wie für die Rolle der Wissenschaften im Nationalsozialismus, für die Organisation der Konzentrationslager, wie für die Erforschung der Schicksale von jüdischen und polnischen Kindern und der Vernichtung von Roma und Sinti. Freundlich thematisiert u.a. auch den Raub von polnischen Kindern, die ein „arisches“ Aussehen hatten durch NationalsozialistInnen. Tausende Kinder wurden gewaltsam entführt, in Lebensbornheime gebracht, wo ihre Identität verschleiert wurde, und dann an SS-Ehepaare weitergegeben. Freundlich weist dabei auf die unheilvolle Rolle der Wiener Psychologin Hildegard Hetzer hin, die an den Selektionen „arisierbarer“ Kinder in LödZ beteiligt war. Hetzer war eine Schülerin des Ehepaares Bühler gewesen, das 1938 aus Österreich flüchten musste. Auch die von Freundlich angeschnittene Frage nach der Rolle der Eisenbahn bei den Deportationen wurde in Österreich erst vor wenigen Jahren genauer untersucht. Heute, bald drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges, sind schon allein durch die Zugänglichkeit von Archiven insbesondere in osteuropäischen Ländern viel detailliertere Forschungen möglich, die heute von WissenschafterInnen vor Ort und in internationalen Kooperationen durchgeführt werden können. Elisabeth Freundlichs Buch ist noch unter völlig anderen politischen Bedingungen entstanden und nicht zuletzt aus diesem Grund umso lesenswerter. Elisabeth Malleier Elisabeth Freundlich: Die Ermordung einer Stadt namens Stanislau. NS-Vernichtungspolitik in Polen 1939-1945. Hg. von Paul Rosdy. Mit einem Interview mit Rabbi Moyshe-Leib Kolesnik und Beiträgen von Susanne Alge und Jaroslaw Hryzak. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2016. 314 S. € 24,Oktober 2017 69